Junge Pflegende

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Wenn das Kind den Vater pflegt

Die ungefähre Lesezeit beträgt 15 Minuten.

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Kindheit. Das riecht nach Kaugummiblasen und Freibadpommes. Das fühlt sich an nach Omahänden, die einem liebevoll durchs Haar wuscheln. Das klingt nach dem Klicken von Legosteinen, wenn sie aufeinander einrasten. Das war die Zeit, in der die nächste Verabredung mit Freunden nur ein Türklingeln, maximal einen kurzen Festnetz-Anruf entfernt war. Und die Tage, an denen die Eltern einen geweckt haben, wenn die Lieblingsband weit nach Beginn der Bettzeit noch bei „Wetten dass..?“ aufgetreten ist. Das war ganz viel Leichtigkeit und wenig Sorge. Doch längst nicht jeder wächst so unbeschwert auf. Kindheit riecht für manche eher nach Desinfektionsmittel, das in der Nase beißt, klingt nach Tablettenblistern, die ausgedrückt werden. In einigen Familien streicheln die jungen Hände trostspendend die erwachsenen statt anders herum und für Verabredungen bleibt keine Zeit. Mancherorts bedeuten nächtliche Weckrufe nichts Gutes. Von Leichtigkeit ist wenig bis nichts zu spüren. Von Verantwortung dafür umso mehr. Allein in Deutschland leben 480.000 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren, die zur Gruppe der young Carers zählen (AOK-Artikel). Das besagt eine Studie der Universität Witten-Herdecke von 2018 zu eben jenen jungen Pflegenden. Sie alle kümmern sich zu Hause um ein krankes Familienmitglied.

Inhaltsverzeichnis

Gemeinsam stark

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wenn Kinder im Haushalt helfen, mal auf ihre Geschwister aufpassen und geliebten Menschen zur Hand gehen, dann ist das nicht unbedingt etwas Schlechtes oder nicht nur schlecht. So äußert ein junger Mann, der mit 14 Jahren angefangen hat, seine Mutter zu pflegen, im ZQP-Report „Junge Pflege“: „Ich sehe das positiv. Im Leben gibt es nichts geschenkt, man muss hart arbeiten. Es ist schön, dass ich in diesem jungen Alter für meine Mutter und meinen Vater da sein konnte, als sie Hilfe brauchten.“ Es kann den Zusammenhalt in der Familie stärken, wenn ein Mitglied krank ist und alle anderen ihr Stück dazu beitragen, dass das gemeinsame Miteinander trotzdem funktioniert. Es kann selbstbewusst machen, wenn man als junger Mensch Verantwortung übertragen bekommt. „Dominiert die Pflegeverantwortung jedoch den Alltag der Kinder und Jugendlichen, kann sich die damit verbundene hohe Belastung auf ihr soziales Leben, die körperliche Gesundheit, die Schule oder den Beruf auswirken“ (AOK). Kinder sollten keinesfalls in die Rolle von Erwachsenen gedrängt werden.

Bewusstsein schaffen

Die Aufgaben, die pflegende Kinder und Jugendliche in ihren jeweiligen Familien übernehmen, variieren stark. „Der Umfang ihrer Tätigkeit reicht von gelegentlichen Hilfestellungen bis hin zur alleinverantwortlichen Rund-um-die-Uhr-Betreuung“ („Pflegende Kinder und Jugendliche – ein Überblick“). Autorin Sabine Metzing ist auch überzeugt: „[J]e größer der Unterstützungsbedarf, desto ,unsichtbarer‘ die Familie.“

Um junge Pflegende überhaupt erst einmal aus dem Schattendasein herauszuholen, das sie aktuell fristen, haben sich in den ergangenen Jahren mehr und mehr Initiativen gegründet (siehe Text-Ende). Sie wollen überlastete Minderjährige entlasten, Kindern und Jugendlichen, die tagtäglich pflegerische Aufgaben übernehmen, Gesprächsangebote bieten. Denn: Sich mal etwas von der Seele zu reden, das kann gut tun und geht bei Außenstehenden manchmal leichter. Betroffene sollen sich vernetzen, informieren können über Krankheiten sowie Erste Hilfe, aber auch mal unbeschwerte Auszeiten genießen. Familien sollen Unterstützungsmöglichkeiten aufgezeigt bekommen. Das Thema „junge Pflege“ soll im Idealfall künftig kein Tabu mehr sein, damit Betroffene keine Angst mehr vor Stigmatisierung oder gar vor dem Jugendamt haben und beispielsweise Lehrer, Hausärzte oder Pflegepersonal sensibilisiert werden. Zudem hilft es dem einen oder anderen vielleicht dabei, überhaupt erst einmal zu registrieren, dass er zur Gruppe der young Carers gehört. Denn längst nicht alle wüssten das (Metzing).

Unterstützung auf neue Füße stellen

Experten fordern außerdem ein Umdenken im Gesundheitswesen:

„Die verschiedenen Akteure des Gesundheitssystems, der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Sozialhilfe fokussieren mit ihren unterschiedlichen Aufträgen in der Regel das Individuum, nicht aber die Familie als Einheit. Eine chronische Erkrankung betrifft jedoch nie nur die erkrankte Person, sondern auch das sie umgebende familiäre System. Unterstützung muss sich an die gesamte Familie richten, nur so können alle Betroffenen Entlastung erfahren“, fordert Sabine Metzing.

Ralph Knüttel, der ebenfalls in dem ZQP-Report zu Wort kommt, mahnt, dass die Gesellschaft die moralische Pflicht dazu habe, die Kosten der Pflege zu tragen – insbesondere, wenn junge Menschen beteiligt seien. „Letztlich wird dadurch im Gesundheitssystem eventuell sogar Geld gespart, wenn zum Beispiel das pflegende Kind eines Tages nicht selbst körperlich oder psychisch erkrankt…“ („Im Aufbau: superhands für Deutschland“)

England macht den Anfang

Dass der englische Begriff für die jungen Pflegenden auch Einzug in deutschsprachige Texte gefunden hat, ist übrigens kein Zufall. Einem Text von Martin Nagl-Cupal zufolge bekamen die betreffenden Kinder und Jugendlichen in Großbritannien bereits Ende der 80er-Jahre erstmals Aufmerksamkeit. Erst lange danach schwappte das Bewusstsein auch in andere Länder über.

Einigen generellen Informationen sowie den markierten Zitaten liegen folgende Quellen zugrunde:

ZQP-Report „Junge Pflege“, Zentrum für Qualität in der Pflege – die Stiftung, die Wissen vernetzt, Zentrum für Qualität in der Pflege, Berlin, 2017.

Sabine Metzing: „Pflegende Kinder und Jugendliche – ein Überblick“ im ZQP-Report „Junge Pflege“, Zentrum für Qualität in der Pflege, Berlin, 2017.

Martin Nagl-Cupal: „Situation pflegender Kinder und Jugendlicher in Österreich – eine Bestandsaufnahme“, “ im ZQP-Report „Junge Pflege“, Zentrum für Qualität in der Pflege, Berlin, 2017.

Interview mit Ralph Knüttel: „Im Aufbau: superhands für Deutschland“ im ZQP-Report „Junge Pflege“, Zentrum für Qualität in der Pflege, Berlin, 2017.

AOK-Bundesverband GbR „Was verlangt die Pflege von Angehörigen den Young Carers ab? “ (Link), Stand: 11. Oktober 2023.

Weitere hilfreiche Quellen:

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Juliane Klug

Als Redakteurin liebt es Juliane, in immer neue Themen einzutauchen. Wenn sie anderen Menschen komplexe Dinge verständlich näherbringen kann, ist sie in ihrem Element. Seit dem Frühjahr 2022 sorgt Juliane im Marketing-Team von Citycare24 für Content.

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