Als Leihoma ins Ausland
Die ungefähre Lesezeit beträgt 10 Minuten.
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Frage: Wie stellen Sie sich die klassische Oma vor? Auf jeden Fall Ü75, vielleicht mit weiß-grauer, leicht gewellter Kurzhaar-Frisur? Womöglich ist die Großmutter, die Sie vor Ihrem inneren Auge haben, mittlerweile auch ein bisschen tüdelig und gebrechlich. Nun, all das trifft auf Eva Dieker nicht zu. Und doch war die Oldenburgerin schon mal eine Oma – eine Leihoma, um genau zu sein. Als „Granny Aupair“ hat die heute 57-Jährige vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie ein halbes Jahr lang in Kalifornien gelebt. Citycare24 hat mit ihr über diese besondere Zeit gesprochen.
Aus Niedersachsen in Richtung San Francisco
Eva Dieker ist Augenoptiker-Meisterin und Mentorin für Quereinsteiger, hat zwei Kinder, die 24 und 22 Jahre alt sind, und sie träumt seit Längerem von der Ferne: „Ein Wunsch von mir war immer schon, mal einen Auslandsaufenthalt zu machen“, sagt sie. Sie habe sich von den Normen frei machen wollen, die jeder von der Gesellschaft, in der man aufwächst, und der eigenen Erziehung mitgegeben bekommt. Im Jahr 2019 fielen dann mehrere Dinge zusammen: Das eben erwähnte Bedürfnis, ihre Englischkenntnisse, an denen die Oldenburgerin unbedingt arbeiten wollte, sowie Ereignisse im Privaten und im Beruf.
Das Profil auf der „Granny Aupair“-Seite, die die Hamburgerin Michaela Hansen 2010 gegründet hat und auf der diese gegen Gebühr Kontakte vermittelt, war schnell erstellt. Da flatterten die Anfragen von suchenden Familien von überall auf der Welt auch schon in Diekers virtuelles Postfach. Ihre spätere Gastfamilie hatte die Augenoptikerin da allerdings schon entdeckt und angeschrieben: Greg, Anfang/Mitte 50, und Baby Hannah; 18 Meilen nördlich von San Francisco. Nach zwei kinderlosen Ehen hatte der Mann, den die Deutsche als großartigen Menschen beschreibt, gemerkt, dass er doch unbedingt Nachwuchs möchte. Mithilfe einer Eizellenspenderin und einer durch ein Unternehmen qualifizierten Leihmutter – das ist in Kalifornien erlaubt – wurde dieser Wunsch schließlich wahr.
Mit Baby im Anhänger in die Natur
Doch zurück zu Eva Dieker: Drei Monate lagen zwischen den gegenseitigen Zusagen und der Abreise der Leihoma. Dann folgten sechs Monate, in denen sie sich ganz und gar der anfangs halbjährigen Hannah verschrieb. Während Greg arbeitete, unternahmen die deutsche Oma auf Zeit und der Säugling viel mit dem extra für sie erstandenen Fahrrad mit Anhänger. Die beiden fuhren einkaufen, spielten oder besuchten Krabbelgruppen und Babyschwimmkurse. Eva Dieker sang ihrem Schützling deutsche Kinderlieder vor, fuhr mit Hannah zum Strand sowie in die direkte Natur in der Umgebung und schmiss den Haushalt. Viele Jahre, nachdem sie die ersten Schritte im Leben eines Menschenkindes bei ihrem Nachwuchs gesehen hatte, habe sie diese in den USA noch einmal bei jemandem miterlebt, erzählt Dieker bei dem Treffen in der Oldenburger Innenstadt. Sie ließ sich verzaubern vom kalifornischen Licht, der Flora und Fauna. „Die Farben… So etwas habe ich noch nicht gesehen!“, schwärmt Eva Dieker auch gut zwei Jahre später noch. Ihr Fazit des Auslandsaufenthaltes: „Ich würde das jederzeit wieder machen!“
Raus aus der Komfortzone
Wenn Eva Dieker anderen Menschen von ihrer USA-Zeit erzählt und Sätze wie „Das ist aber mutig“ erntet, dann irritiert sie das, sagt sie. Denn hätte es zwischen ihr und der Gastfamilie nicht gepasst, dann hätte sie ihren Aufenthalt jederzeit beenden können, so Dieker. „Eine Komfortzone engt das Leben schnell ein“, ist die Augenoptiker-Meisterin überzeugt. „Deshalb versuche ich sie immer wieder zu verlassen.“ Menschen ertrügen kleines Leid wie ein unzufriedenes Leben ziemlich lange. Allerdings nage das stetig an ihnen. Die Situation beherzt zu ändern, ist zwar manchmal unbequem, aber auf Dauer gesünder. An dieser Stelle erzählt Eva Dieker die Metapher des Frosches im kochenden Wasser. Angeblich springt die Amphibie weg, wenn man sie versucht, in brodelnd-heißes Wasser zu werfen. Setzt man das Tier allerdings ins kalte Nass und erwärmt dieses langsam, ergibt sich der Frosch angeblich seinem Schicksal. Dieker jedenfalls wagte den Sprung und wurde belohnt.
Fotos: privat
Von Akzeptanz und Traumländern: Was Leihomas mitbringen und vorab klären sollten
Das Einzige, was vor einem Auslandsaufenthalt zu organisieren sei, hat Eva Dieker schnell aufgezählt: Versicherungen, die Post, das Telefon und wer die Blumen gießt. „Fertig. Mehr war es nicht.“ Was „Granny Aupairs“ im Gepäck haben sollten, weiß die Oldenburgerin auch: keine Erwartungen oder Vorstellungen! Sie sollten die Situation vor Ort zunächst erfassen und dann schauen, wo sie sich für die Familie einbringen können. „Die Akzeptanz gegenüber mir fremden Handelns“ sei auch wichtig, sagt Eva Dieker. „Solange ich nicht darunter leide, darf ich mir kein Urteil erlauben. Im Gegenteil: Ich muss es sogar annehmen – ohne Groll.“ Die zweifache Mutter meint damit etwa die Erziehung von Leihenkeln. Wenn sie mit der kleinen Hannah unterwegs gewesen sei, habe sie natürlich schon das getan, was sie verantworten konnte. Aber sobald Greg da war, habe sie sich zurückgehalten, veranschaulicht sie. Daneben sei Neugier wichtig, Selbstständigkeit und Eigeninitiative.
„Granny-Aupair“-Portalgründerin Michaela Hansen rät jeder Frau – Männer waren in all den Jahren nicht gefragt und nur sehr wenige hätten selbst angefragt – eine Checkliste zu machen; sich vorab etwa zu überlegen, wie viele Kinder ihre Gastfamilie haben dürfe, ob diese lieber größer sein sollten oder noch Kleinkinder sein dürften. Auch entscheidend sei, welche Länder infrage kämen und welche ausscheiden, weil sie etwa zu heiß oder zu kalt seien. Und dann hat die Hamburgerin noch einen richtig guten Tipp parat: „Ich sage immer, man sollte gar nicht so sehr aufs Land, sondern mehr auf die Menschen schauen. Was nützt es einem, wenn man in seinem Traumland ist, aber nicht bei der Traumfamilie?“
Tausende „Granny Aupairs“ in mehr als 50 Ländern
Hansen hat „Granny Aupair“ 2010 in Hamburg gegründet. Jetzt, zwölf Jahre später, hätten über die Seite www.granny-aupair.com bereits mehrere Tausende Familien und Grannies zueinandergefunden, erzählt Hansen am Telefon – in mehr als 50 Ländern. Konkrete Zahlen hat sie nicht, weil ihre Initiative anders funktioniert als viele Au-pair-Programme für junge Menschen. Die Plattform stellt die Kontakte her. Ob die suchenden Familien alle fündig werden und alle angemeldeten Grannies tatsächlich ausreisen, bekommt Michaela Hansen nicht mitgeteilt.
Frauen in den 40ern und bis 80 Jahre, für die eine Zeit als „Granny Aupair“ beziehungsweise als Gesellschafterin im Ausland spannend klingt oder die ein Sabbatjahr machen möchten, können sich auf Hansens Seite zunächst kostenfrei registrieren. Dann sehen sie die Einsatz-Stellen oder Granny-Profile. „Wenn man mitmachen möchte, schließt man eine Mitgliedschaft ab“, erklärt die Gründerin der Initiative. Drei, sechs oder zwölf Monate stehen zur Auswahl – für 195 Euro, 270 Euro beziehungsweise 420 Euro. Bei Bedarf können Interessierte in Workshops ausloten, ob der Auslandsaufenthalt mit Familienanschluss etwas für sie ist. Kost und Logis, so die Idee, übernimmt die Familie am Einsatzort für die Leihoma. Den Rest – etwa wie die Kosten für Flüge oder ein Taschengeld – besprechen die Beteiligten miteinander.
Eigene Kinder sind keine Voraussetzung
Welche Frauen sich im Alter auf das Abenteuer „Granny Aupair“ einlassen? „Typisch ist vielleicht, dass sie noch mal eine Herausforderung suchen, noch eine Sprache lernen und etwas Sinnvolles machen wollen“, sagt Michaela Hansen. Viele reize das Ausland – obwohl das Portal auch viele Kontakt innerhalb Deutschlands vermittle. Die Frauen seien bunt gemischt: „Das Gros ist zwischen 60 und Anfang 70 Jahre alt; verheiratet oder auch nicht“, erzählt Gründerin Hansen. Manche hätten eigene Kinder großgezogen, wobei das aber keine Bedingung ist.
Wer durch die kurzen Erfahrungsberichte des Online-Portals scrollt, merkt schnell, dass einige in der Rente mithilfe der Initiative die ganze Welt erobern. Andere reisen immer wieder zu einer und derselben Familie. Viele halten auf jeden Fall Kontakt – wie auch Eva Dieker. Sie hat sich gerade (im September 2022) ein zweites Mal nach Kalifornien aufgemacht. Dort besucht sie Hannah und Greg für vier Wochen.
Neben dem Portal von Michaela Hansen gibt es natürlich auch noch andere Möglichkeiten und Wege für Senioren, einen Auslandsaufenthalt zu organisieren. Hier gibt es drei weitere:
2 Responses
Hallo Frau Klug,
zu dem Granny Artikel haben mich einige Gedanken bewegt und ich fände es interessant mich mit Ihnen darüber auszutauschen. Es wird von der Dame berichtet, die das noch sehr kleine Mädchen ein halbes Jahr intensiv betreut hat und dann wieder abgereist ist. Ich frage mich, wie mag es für dieses Kind gewesen sein, gerade in dem Alter entsteht eine intensive Bindung und dann ist die Granny wieder weg, was das Kind nicht verstehen kann, weil es noch zu jung ist. Auf der Granny Profil Seite werden viele Grannys für kurze Zeit gesucht, dass bedeutet doch auch die Kinder haben immer wieder wechselnde Grannys und müssen sich immer wieder neu darauf einstelle. Darum frage ich mich, ob die Kinder wohl auch immer so begeistert sind, wie die daran beteiligten Erwachsenen? Mir kommt da der Bindungsaspekt viel zu kurz. Mich interessiert was Sie darüber denken und ob es zu dieser Kritik am Grannykonzept Artikel und oder Informationen gibt ?
Über eine Antwort und gerne auch Diskussion dazu würde ich mich freuen,
mit schönen Grüßen
Inge Hubert-Fiehn
Hallo Frau Hubert-Fiehn,
entschuldigen Sie meine späte Antwort. Ich hatte Urlaub.
Das kleine Mädchen, um das es in diesem Text geht, hat einen Vater, hat sicherlich noch weitere Verwandte, Freunde sowie Nachbarn – und es hatte ein halbes Jahr lang eine deutsche Leihoma. Mit der Abreise des „Granny-Aupairs“ ist sicherlich eine Bindung extrem geschrumpft (Kontakt besteht schließlich noch). Aber ganz viele andere enge Bindungen des Kindes, die seit seiner Geburt bestehen, hatten und haben weiterhin Bestand. Das soziale Gefüge, dessen Teil die Kleine ist, scheint mir weiterhin intakt – sofern ich das als Nicht-Pädagogin beurteilen kann.
Aber ganz abgesehen davon, was Sie oder ich davon halten, müssen genau zwei Parteien entscheiden, wie sie dieses Konzept der Kinderbetreuung finden: der Vater des Mädchens und die Granny. Ich fand das Thema einfach ein spannendes für diesen Ratgeber und wollte es den Lesern nicht vorenthalten – ohne Anspruch auf wissenschaftliche Vollständigkeit, denn darum kann es bei einem Blog wie diesem nicht gehen.
In einem Punkt sind wir beiden – Sie und ich – uns sicher einig: Über die Betreuung durch ein Au-pair oder eine Nanny lässt sich genauso ausführlich diskutieren wie über Krippenplätze oder über das konservative Hausfrauen-Modell. Bei allem gibt es ein Für und Wider. Und egal, wofür man oder frau sich entscheidet: Es wird immer jemanden geben, der Vorbehalte hat.
Als ich mich mit der Recherche zu dem Thema befasst habe, sagten mir meine Ansprechpartnerinnen, dass einige Familien auf der „Granny-Aupair“-Seite auch Urlaubsvertretungen für ihre eigentlichen Betreuerinnen suchen. Das erklärt vielleicht die Anfragen für besonders kurze Zeiträume, die Sie angesprochen haben. Was die Bindungsforschung zu Säuglingen und Kleinkindern angeht, da kann ich Ihnen spontan leider nicht mit Literatur weiterhelfen.
Beste Grüße sendet Ihnen:
Juliane Klug