"Ich wollte wieder tanzen, wollte trainieren, wollte fit werden"
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Esther Meyer: Der März ist der Darmkrebs-Monat. Da werben viele für die Prävention, für die Darmspiegelung, für die Untersuchungen und für die Krebsvorsorge, die den Darm betrifft. Jede Krebsart hat ihren eigenen Monat, einige teilen sich auch einen. Der Darmkrebs ist die zweithäufigste Krebsart bei Männern und Frauen.
Ich habe mir die Aufklärung seit meiner Darmkrebs-Diagnose auf die Fahnen geschrieben. Seitdem habe ich in meiner Familie, meinem Freundeskreis und später auch in den sozialen Medien geschaut, dass jeder seine Vorsorge-Termine wahrnimmt.
Esther: Ich hole mal aus und erzähle, wie es überhaupt zu meiner Darmspiegelung gekommen ist. Ich hatte im März ´21 eine Thrombose in der Kniekehle. Während der Corona-Zeit habe ich mich geweigert, in ein Krankenhaus zu gehen, in dem ich keinen Besuch bekomme. Deshalb wollte ich zur Abklärung einen Ultraschall bei meinem Arzt einen Ort weiter haben. Dieser Internist schallt jährlich mein Herz und deshalb dachte ich, dass er dann wohl auch mein Knie schallen kann. Es ging schließlich nur darum, die Diagnose vom Hausarzt zu bestätigen. Das hat er dann auch getan – und weil er eigentlich ein Gastroenterologe ist, hat mein Arzt damals gesagt, dass er, wenn ich keinen Blutverdünner mehr nehmen muss, gern eine Darmspiegelung machen möchte. Denn: Eine unbestimmte Thrombose könne immer ein Indiz für einen Tumor sein – muss sie aber nicht.
Ich habe dann ein halbes Jahr lang den Blutverdünner genommen und die Thrombose behandelt. Die war dann auch weg. Meine Eltern wollten mich davon überzeugen, die Darmspiegelung sein zu lassen, weil bei der Untersuchung schließlich etwas passieren könnte und wir keine Vorerkrankungen in der Familie haben. Ich habe aber meinem Arzt vertraut und wollte das einfach machen.
Am 15. Dezember, also kurz vor Weihnachten, hatte ich die Spiegelung dann. Da war ich gerade eine Woche lang 44 Jahre alt. Ich weiß noch, dass ich nach der Darmspiegelung aufgewacht bin und dachte: Irgendwas ist hier, mich gucken alle so komisch an – so mitleidig. Ich stand allerdings auch noch total unter Narkose. Beim Aufwachen wollte mir niemand was sagen. Stattdessen sollte ich zu einem Besprechungstermin am nächsten Tag kommen. Da gingen bei mir die Alarmglocken an. Ich kann das gar nicht beschreiben. Deshalb habe ich den Arzt gebeten, mir zu sagen, was Sache ist.
Der Inhalt dieses Gesprächs war, dass sie einen großen Tumor gefunden haben, der fast den ganzen Darm ausfüllt und zu 80 Prozent bösartig ist. Bei dem Gespräch am nächsten Tag sollte ich dann Genaueres erfahren. Der Arzt meinte aber sinngemäß noch: Wir haben nicht viel Zeit. Denn auch, wenn er gutartig gewesen wäre, wäre es mit diesem Tumor trotzdem eine große Darm-OP geworden. Der Tumor hatte um die 15 Zentimeter Durchmesser. Ich stand kurz vor einem Darmverschluss.
Esther: Ja. Ich hatte bei dem Abführprogramm vor der Spiegelung Probleme, hatte dabei wahnsinnige Schmerzen. Im Nachhinein betrachtet war das auch gefährlich. Aber das konnte zu der Zeit ja keiner wissen. Wenn man vom Alter ausgeht, komme ich ja auch überhaupt nicht für Darmkrebs infrage. Ich glaube, Frauen sind im Durchschnitt 75, Männer 70 Jahre alt, wenn Darmkrebs entdeckt wird.
Esther: Wenn ich etwas gemerkt habe, dann war das eine leichte Unverträglichkeit. Ich dachte, dass ich vielleicht Gluten, Laktose oder Fruktose nicht ganz so gut vertrage. Aber ich wollte mich erst einmal um die Thrombose kümmern und dann vielleicht ein paar Tests machen. Denn es war nicht so, dass ich gelitten hätte und nichts mehr essen konnte. Dass das ein Tumor sein könnte, habe ich nicht bemerkt. Ich hatte einen riesigen Schutzengel und bin meinem Arzt mehr als dankbar.
Esther: Ich bin an dem Tag der Darmspiegelung dann noch notgeboostert worden, habe also meine 3. Corona-Impfung bekommen, damit ich fürs Krankenhaus vorbereitet bin.
Ich bin selbstständige Grafikerin und weiß noch, dass ich in den Tagen danach einfach meine Jobs fertigbekommen wollte. Ich wusste ja auch nicht, wie schnell ich operiert werde. Außerdem war es kurz vor Weihnachten. Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder und es war noch kein Geschenk eingepackt. Also habe ich ganz viel durchgearbeitet und bin gar nicht richtig zum Nachdenken gekommen.
Wenige Tage später hatte ich einen Untersuchungstermin im Krankenhaus, dann einen Besprechungs- und einen CT-Termin. Da liefen innerhalb einer Woche die kompletten Untersuchungen ab, sodass ich direkt nach Weihnachten – am 27. Dezember – operiert worden bin.
Ich war Weihnachten noch zu Hause. Das war mit zwei Kindern im Alter von damals 15 und 11 wichtig für mich und die Familie. Weihnachten war zwar speziell und ich durfte nicht mehr viel essen, weil ich am 2. Feiertag abführen musste.
Esther: Bei Darmtumoren ist es so, dass oft der komplette Blut- und Lymphabfluss mit entfernt wird. Es gibt drei Darmabschnitte: einen aufsteigenden, einen quer verlaufenden und einen absteigenden Dickdarmabschnitt. Mein Tumor lag in einer Kurve. Deswegen hatte ich das Pech, dass mir zwei komplette Darmabschnitte, also circa zwei Drittel des Dickdarmes, entfernt werden mussten. Wie viel Darm entfernt wird, hängt unter anderem mit dem Alter des Patienten zusammen, mit der Größe des Tumors und der damit zusammenhängenden Wahrscheinlichkeit, dass er durch die Lymphknoten schon gestreut hat. Da wollten die Ärzte in Anbetracht meines Alters alles ausmerzen, indem sie großflächig operiert haben.
Esther: Ich habe keinen genetischen Tumor. Wir haben auch gar keinen Krebs in der Familie. Wenn man sich zu fettreich ernährt hat, wenn man geraucht hat, zu viel Alkohol getrunken, wenig Sport getrieben hat, dann steigt das Risiko für Darmkrebs. Das war bei mir aber überhaupt nicht der Fall. Warum ich die Diagnose Darmkrebs bekam, kann man nicht sagen. Was man aber sagen kann, ist, dass es ein langsam wachsender Tumor war. Ich hatte ihn bestimmt schon zehn bis 15 Jahre und er war bösartig. Es hat ein paar Tage gedauert, aber dann wusste ich, dass alle 93 entnommenen Lymphknoten nicht befallen waren. Er hatte also nicht gestreut.
Über eine Chemotherapie musste ich leider selbst entscheiden, das hatte das Tumorboard der Klinik bestimmt. Eine sehr schwierige Entscheidung, schwieriger als die eigentliche Diagnose… Ich habe mich erst in der Reha mit der Onkologin und meinem Bauchgefühl gegen eine Chemo entschieden und bin sehr froh darüber und werde mir auch nie das Gegenteil vorwerfen.
Aber nun zurück zu meiner Zeit im Krankenhaus: Insgesamt war ich zwölf Tage nach der Operation im Krankenhaus. Mir ging es nicht gut. Ich kam relativ schwer wieder auf die Beine, war auch noch sehr lange über eine Schmerzpumpe im Rückenmark sediert. Dadurch konnte ich gar nicht richtig funktionieren, laufen und meinen Stuhlgang merken. Das lag aber an der Größe der OP. Sie hat sieben/ siebeneinhalb Stunden gedauert. Durch Corona durfte mein Mann nur alle drei Tage zu Besuch kommen und sonst gar niemand. Ich habe weder meine Kinder noch meine Eltern oder engste Freunde in der Zeit gesehen.
Als ich dann endlich aufstehen durfte, konnte ich erst einmal nur mit dem Rollator und gemeinsam mit der Physiotherapeutin laufen. In der Klinik bin ich nur damit gelaufen. Als ich zu Hause aus dem Auto ausgestiegen bin, bin ich das erste Mal ohne Hilfsmittel gelaufen, aber immer nur mit einem Menschen an der Seite. Das hätte ich von der Kraft her sonst gar nicht geschafft.
Esther: Mit der Diagnose Krebs ist alles grundlegend anders! Ich würde behaupten: Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich vorher gewesen bin. Ich bin grundsätzlich noch positiver als ich vorher schon war, sehe Stress nicht mehr negativ beziehungsweise nehme ihn nicht mehr wahr. Ich habe eine innere Ruhe bekommen und mein Bauchgefühl funktioniert trotz des kurzen Darms noch ganz fantastisch. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich lasse mich viel von meinem Bauch leiten. Und auch wenn meine Verdauung jetzt noch nicht das Maximum erreicht hat, denke ich immer, dass das noch besser wird. Zeit spielt da eine große Rolle.
Vor zwei Jahren hatte ich dauerhaft Durchfall. Ich musste also immer eine Toilette in der Nähe haben. Das war echt schwierig. Im Nachhinein betrachtet habe ich trotzdem wahnsinnig viel gemacht in der Zeit, was ich heute als sehr mutig empfinde. Ich habe mich nicht zu Hause eingeschlossen, sondern wollte wieder mit meiner Tanzgruppe tanzen. Fasching war 2022 durch Corona verschoben worden in den Mai. Und auch als ich mich noch nicht groß bewegen konnte, wollte ich wieder tanzen. Ich wollte trainieren, ich wollte fit werden. Und irgendwie ging es: Von nicht mal allein die Schuhe und Socken wechseln können bis zum Auftritt. Denn: Tatsächlich habe ich im Mai wieder getanzt. Das hat keiner geglaubt – auch nicht die Ärzte in der Reha oder meine Ärzte hier. Aber das hat mir keiner zu verstehen gegeben, das war sehr fair – lacht.
Esther: Ich ernähre mich eigentlich überhaupt nicht mehr so, wie ich mich vorher ernährt habe. Aber es wird Stück für Stück besser. Direkt nach der OP war mein Ernährungsspektrum wirklich sehr, sehr eingeschränkt. Ich durfte natürlich nichts Blähendes essen, hatte in der Klinik einen leichten Kostaufbau von Suppen und Breien bis hin zur leichten Kost, die möglichst keine Blähungen verursacht. Denn bei einem kurzen Darm ist die Kombination Durchfall und Blähungen eine ganz unmögliche. Ich habe wirklich unschöne Erinnerungen an Situationen, in denen ich unterwegs ganz schnell Toiletten suchen musste. Die Anfangszeit hat mich viel Schweiß und Nerven gekostet. Jetzt vertrage ich nur noch manchmal etwas nicht. Was ich gar nicht mehr vertrage, sind fette und stark blähende Nahrungsmittel und vor allem Süßungsmittel. Die wirken extremst blähend bei mir. Wenn überhaupt, dann versuche ich, nur mit Zucker zu süßen – mit Haushaltszucker oder Rohrohrzucker. Aber diese künstlichen Süßungsmittel, die in allen Light- oder Fertigprodukten drin sind, die gehen nicht. Ich koche seitdem zu 100 Prozent frisch und mittlerweile experimentiere ich auch wieder mit Knoblauch, Zwiebeln und Hülsenfrüchten herum. Gerade diese Ballaststoffe sind gut für den Darm und gegen Krebs. Am Anfang ging das aber gar nicht. Am Anfang hat eigentlich nichts funktioniert. Jedes Essen hat mit Durchfall geendet.
Im Frühjahr nach der OP habe ich eine Ernährungsberatung gemacht, weil ich echt frustriert war. Da kam raus, dass nicht nur entscheidend ist, was man isst, sondern auch, wie man es isst. Es geht um die Zubereitung, aber auch darum, dass man in Ruhe isst. Denn sich Essen einfach schnell reinzuschieben, das kann auch Blähungen auslösen. Deshalb habe ich ganz andere Koch- und Essensrituale entwickelt. Wenn ich früher wusste, dass ich noch Training habe und nur eine Viertelstunde oder 20 Minuten Zeit waren, dann war es für mich kein Problem, mir eben im Stehen noch ein Brot zu genehmigen. Das mache ich gar nicht mehr. Jetzt decke ich den Tisch schön und setze ich mich hin. Wenn ich selbst koche, dann bekommt mir das Essen heute zu 80 Prozent. Das ist ein guter Prozentsatz. Wenn ich essen gehe… dann ist das immerhin besser als noch vor zwei Jahren. Eingeschränkt bin ich natürlich immer noch, aber auch viel mutiger.
Esther: Wenn man in dem Alter ist, dass man eine Vorsorge wahrnehmen kann, dann sollte man das tun! Das hätte mir zwar nicht geholfen, aber das hilft vielleicht anderen, schon Vorstufen – sogenannte Polypen – zu finden. Wenn man Darmkrebs in der Familie hat, dann sollte man schon vor dem Alter von 50 beziehungsweise 55 Jahren den Kontakt zu Ärzten suchen. Dann bekommt man auch schon früher eine Darmspiegelung. Wer Probleme mit dem Darm hat, die über ein Normalmaß hinausgehen, oder ein komisches Bauchgefühl, der sollte das nicht wegschieben. Stattdessen sollte man nachschauen lassen, ob alles in Ordnung ist.
Viele Menschen haben Angst, bei solchen Untersuchungen Ergebnisse zu bekommen, die sie nicht wollen. Bei meinen Eltern habe ich anderthalb Jahre lang gebraucht, bis sie letzten Sommer dann endlich zur Darmspiegelung gegangen sind. Ich habe ihnen zu Weihnachten, also ein halbes Jahr, bevor sie dann hingegangen sind, einfach einen Termin gemacht. Den habe ich ihnen eingepackt und unter den Baum gelegt. Sie waren nicht begeistert – lacht. Aber: Bei meinem Papa wurde ein Polyp gefunden. Die Ärzte haben damals bei meiner Diagnose schon gesagt: Angehörige 1. Grades sollen jetzt zur Spiegelung gehen. Trotz allem sind sie erst mal nicht gegangen. Das war echt mein größtes Projekt. Mein Bruder, der ein Jahr jünger ist als ich, sich ungesünder als ich ernährt und sogar raucht, der weigert sich leider noch bis heute. Ich hoffe, er macht die Darmspiegelung irgendwann und ich hoffe, da kommt nichts raus…
Ganz viele Freunde von mir sind dafür reihenweise zur Untersuchung gegangen. Mein Arzt hat irgendwann gefragt: „Kriegen Sie hier Prozente, sind Sie hier irgendwie beteiligt?“ – lacht. Ich finde es wichtig, im kleinen Kreis anzufangen. Jeder, der für sich erkennt, dass er mal zu einer Darmspiegelung gehen müsste, der sollte gehen. Denn jeder Fall, in dem nichts gefunden wird, ist genauso gut wie einer, bei dem Vorstufen von Krebs gefunden werden. Ich möchte nur nicht, dass jemand diesen Step verpasst und dann so endet wie ich – wobei ich noch echt Glück gehabt habe.
Esther: Ich verstehe nicht, dass ein Unterschied zwischen Frau und Mann gemacht wird. Das liegt aber vermutlich daran, dass Männer früher als Frauen an Darmkrebs erkranken. Wenn man von 70 und 75 Jahren als Durchschnittsalter ausgeht, müssten die Vorsorge-Grenzen ausreichen. Es ist auch selten, dass jemand früher erkrankt. Aber die Häufigkeit von Darmkrebs bei den Unter-50-Jährigen nimmt zu. Deshalb wäre mir wohler, wenn man in der Beziehung keinen Riegel vorgeschoben bekommt: Dass jemand, der zur Vorsorge gehen möchte, diese Untersuchung auch bekommt. Da ist aber auch eine Frage der Finanzierung, weil das ja alles nicht ganz billig ist. Aber wenn man bedenkt, was mein ganzer Weg mit OP gekostet hat – hätte ich noch eine Chemotherapie gemacht, wäre es noch mal teurer geworden – denke ich, dass man da einfach abwägen sollte. Ich wünsche mir, dass diejenigen, die das möchten, auch vorher an entsprechende Untersuchungen rankommen. Ich glaube, der Prozentsatz der Darmkrebserkrankungen würde sinken.
Esther: Was ich noch loswerden möchte, ist, dass jeder auf sein Bauchgefühl vertrauen sollte. Und gewisse Dinge sollte niemand auf die lange Bank schieben. Wir haben nur eine Gesundheit. Die meisten von uns haben nur ein Leben. Ich behaupte von mir: Ich habe zwei! Den OP-Tag feiere ich seitdem als meinen 2. Geburtstag. Das Glück haben nicht alle. Ich hatte viele Schutzengel. Und wenn man so eine Diagnose hat, sollte man nicht hadern, sondern sie annehmen und das Beste daraus machen. Ich wünsche jedem Menschen, dass er das Leben so genießen kann, wie es ist – egal mit welchem Schicksalsschlag er leben muss.