„Der Beckenboden ist eine Lebensaufgabe“
Die ungefähre Lesezeit beträgt 20 Minuten.
Die ungefähre Lesezeit beträgt 20 Minuten.
Sagt Ihnen der englische Begriff Powerhouse etwas? Beim Pilates beschreibt er das Energiezentrum in Höhe der Körpermitte. Neben den Bauchmuskeln, dem Zwerchfell und der tieferliegenden Muskulatur in der Wirbelsäulen-Gegend ist der Beckenboden ein wichtiger Teil dieses inneren Kraftwerks, das dem Körper so viel Stabilität verleiht. Deshalb soll es heute um die drei Muskelschichten gehen, die ihn bilden und die sich vom Schambein bis zum Kreuz- und Steißbein sowie von Sitzhöcker zu Sitzhöcker erstrecken. Wir haben uns dafür mit zwei Beckenboden-Trainerinnen getroffen. Von ihnen haben wir Tipps und Übungen an die Hand bekommen, mit deren Hilfe Frauen wie auch Männer die komplexe Muskelstruktur im Unterleib trainieren können. Das ist nämlich wichtig für die Kontinenz, die Potenz und sehr viel mehr.
Die beiden Beckenbodentrainerinnen Birte Lutzke (links) und Jütte Welbhoff.
Die beiden Beckenbodentrainerinnen Birte Lutzke (links) und Jütte Welbhoff.
Vier Muskeln und Muskelgruppen für eine aufrechte Haltung
„Alle Leute können durch ihre Haltung etwas für den Beckenboden tun“, ist Jütte Welbhoff überzeugt. Sie ist Hebamme in Bremen und umzu. Wie die richtige Haltung aussieht? Aufrecht stehen, Brust raus, damit kein Hohlkreuz entsteht das Steißbein einziehen und das Schambein in Richtung des Bauchnabels orientieren lassen. Zur Unterstützung die Pobacken leicht anspannen und gut stehen, also die großen Zehen erden und beim Gehen die Fußsohle abrollen. Das klingt erst einmal kompliziert, aber: „Damit aktivieren wir den großen Halteapparat“, erklärt die 40-Jährige, den sogenannten Levator-Ani, eine von drei Muskelschichten, die den Beckenboden bilden. Und das ist eben essenziell. „Bauchmuskeln, Rückenmuskeln, Zwerchfell und Beckenboden arbeiten zusammen und sind für die aufrechte Haltung total wichtig“, unterstreicht Birte Lutzke an dieser Stelle im Gespräch. Die 42-jährige ist Inhaberin der Hebammenpraxis Kullerbauch in Bremen, gibt Delfi-Kurse für Babys und Eltern sowie Lauf-Mama-Lauf-Kurse – für werdende Mütter sowie diejenigen, die es schon sind. Hängt eine der vier genannten Muskeln und Muskelgruppen durch, gerät der Rest laut Lutzke in Schieflage.
Der Beckenboden ist zu zwei Dritteln nicht willkürlich ansteuerbar, sagt Jütte Welbhoff. Wobei viele Menschen auch Schwierigkeiten haben, ihn überhaupt wahrzunehmen. Glücklicherweise wird die zweite Schicht der Expertin zufolge allerdings aktiv, wenn man oder frau die Schulterblattspitzen nach hinten unten zieht. Sie danke es ihrer Besitzerin und ihrem Besitzer, indem sie die Organe etwa bei Erschütterungen zurückfedere. Einzig die dritte Schicht – die, die sich bei Frauen wie eine Acht um Harnröhre sowie Scheide und Anus legt – ist willkürlich, also bewusst ansteuerbar. Wie? Auch das erklären die beiden Frauen bei dem Termin im Nordosten Bremens. Man erreiche die Muskelschicht, wenn man im Sitzen mal bewusst versuche, die beiden Sitzbeinhöcker zueinander zu bewegen. Noch etwas einfacher wahrzunehmen ist die innere Bewegung, wenn man sich eine Handtuchrolle schnappt, sich längs draufsetzt und sie versucht, festzuhalten, ergänzt Jütte Welbhoff. Von außen ist davon nichts zu sehen.
Imaginär den Penis bewegen oder den Tampon verschieben
Ein weiteres Szenario, das sich Frauen vorstellen können, um ihren Beckenboden bewusst zu spüren, sei, so zu tun, als ob sie die Position eines Tampons ohne Zuhilfenahme der Hände verändern wollen – oder den Penis eines Geschlechtspartners festhalten. Männern kann beim Nachspüren einer Anleitung der Krankenkasse AOK zufolge die Vorstellung helfen, den Penis in Richtung Bauchnabel ziehen zu wollen. Die Körperöffnungen mit der Ausatmung zu schließen und bei der Einatmung wieder zu entspannen, ist ebenfalls eine gute Übung. Außerdem fällt es niemandem auf, wenn man sie in der Schlange an der Kasse, am Kopierer im Büro oder an jeder roten Ampel macht. Das sind laut Lutzke Situationen, die sich gut als Erinnerungsstütze daran eignen, dem Beckenboden täglich ein bisschen Beachtung zu schenken.
Zu spüren, wo ihr Beckenboden überhaupt liegt, ist Jütte Welbhoff zufolge besonders für Frauen von Vorteil. Denn es sei wichtig, ihn bewusst an- aber auch entspannen zu können. Spätestens wenn sie ein Kind vaginal auf die Welt bringen möchten, ist die Entspannung in dieser Körperregion von großer Bedeutung. Ansonsten ist regelmäßiges bewusstes Anspannen angesagt. Aber wie so oft im Leben ist auch hier das Maß aller Dinge entscheidend. Denn wer immer auf Anspannung setze oder gar verkrampfe, verhindere eine gute Durchblutung. Damit riskiert er oder sie der Expertin zufolge ebenso eine Inkontinenz wie die Menschen mit einem zu schwachen Beckenboden, da die Flexibilität der Muskulatur verloren geht.
Training in den Alltag einbauen
Wer sich nach diesen Übungen unsicher ist, ob sich bei ihm oder ihr untenrum und innen drin die richtige Stelle bewegt hat, braucht nicht traurig sein. Die beiden Beckenboden-Trainerinnen haben weitere Übungen und Alltagstipps parat, die die Körperzone automatisch aktivieren. Gut in die normalen Routinen integrierbar sind beispielsweise die folgenden:
- beim Kochen aufrecht hinstellen – das imaginäre Krönchen aufsetzen, rät Birte Lutzke – und einen weichen oder wenig aufgepumpten Ball zwischen den Oberschenkeln immer wieder zusammenpressen (siehe Bild); dann spannt sich der Beckenboden von ganz alleine an
- aus dem Sitzen hochkommen, ohne sich abzustützen; dabei Gewicht nach vorn verlagern
- einbeinig Zähne putzen und dabei nicht hängen lassen, sondern aktiv nach oben schieben und Körperspannung beibehalten
- beim Autofahren kann man eine Bewegung machen, als wolle man den Sitz nach vorne einrasten lassen wollen; nach rechts und links kann man das über die Sitzbeinhöcker auch probieren
Wie lang man und frau so etwas machen sollte? „Alles ist besser als nichts“, sagt Jütte Welbhoff. Ideal ist es, drei Übungen acht bis zehnmal zu wiederholen, fügt Birte Lutzke hinzu. Das nehme etwa zehn Minuten Zeit täglich in Anspruch.
Was sonst noch wichtig ist: über die Seite aus der Rückenlage aufstehen und auch wieder so hinlegen. Denn die große Anspannung der geraden Bauchmuskeln, die für Sit-ups erforderlich ist, ist eher schlecht für den Beckenboden, so Jütte Welbhoff. Man presse dessen Muskelgeflecht dabei quasi nach unten heraus – dabei kann insbesondere Frauen, die schon mal schwanger waren, auch mal schnell Urin abgehen. „Keine Frau denkt daran den Beckenboden vorher anzuspannen“, so die 40-Jährige. Deshalb rät sie ihnen von Sit-ups ab. „Das würde ich auch Herren nach der Prostata-OP immer raten“, schiebt sie nach. Beim Heben schwerer Dinge sollten bei jedem die Alarmglocken läuten. Für Jütte Welbhoff gehört es absolut zur Prophylaxe, zu massige Möbelstücke, Einkäufe oder Ähnliches stehen zu lassen. Wer dennoch mit anfasst, solle zuvor unbedingt daran denken, seinen Beckenboden bewusst anzusteuern, ausatmend anzuspannen und das Becken leicht nach vorn zu kippen (quasi das Steißbein einziehen).
Ein bisschen mehr Sport
Zu den Übungen, die Birte Lutzke und Jütte Welbhoff empfehlen, zählen die folgenden:
- der Skater; dafür mit dem Oberkörper leicht nach vorne lehnen, Skatebewegungen machen, indem man abwechselnd seitlich vom linken auf das rechte Bein springt, die Fußspitze des jeweils hinten kreuzenden anderen Beins tippt dabei einmal kurz auf den Boden auf
- in Bauchlage auf den Boden legen, Schambein erden, Fußspitzen aufstellen und Becken einrollen und wieder lösen (es gibt eine Verbindung zwischen den Zehenspitzen und dem Harnröhrenmuskel sowie von der Ferse zum Anus)
- „die Schulterbrücke ist das A und O“, sagt Jütte Welbhoff; dafür in Rückenlage die Füße (flach, Spitze oder Ferse) recht nah ans Gesäß stellen, Becken einrollen, Körperöffnungen schließen und mit dem Becken nach oben kommen, als ziehe ein Faden am Schambein himmelwärts; Beckenboden erst lockerlassen, wenn der Hintern wieder auf dem Boden angekommen ist (siehe Fotos)
- Ausgangslage wie bei der Schulterbrücke, nur mit einem weichen Ball unter dem Kreuzbein, Knie auseinanderfallen lassen, Fußsohlen aneinander legen und beim Ausatmen unter Anspannung versuchen, den Ball mit der Bewegung des Beckens fußwärts zu rollen; beim Einatmen entspannen und zurückrollen
- Plank, egal ob auf beide Unterarme beziehungsweise Hände gestützt, seitlich, mit aufgesetzten oder schwebenden Knien – aber immer mit festem Beckenboden und zum Nabel orientiertem Schambein (damit kein Druck nach unten entsteht).
Für diejenigen, die gern live angeleitet werden, hat Birte Lutzke noch diesen praktischen Hinweis: Über die Internetseiten der Krankenkassen finden Interessierte Beckenboden-Präventionskurse. Sie richten sich an Teilnehmende aller Geschlechter.
Vaginalkonen und smarte Beckenbodentrainer
Beide Frauen raten anderen Frauen – auch nicht-schwangeren und kinderlosen – außerdem dazu, sich Konen anzuschaffen, die sie vaginal einführen können. Welbhoff empfiehlt tropfenförmige, weil diese es ihren Trägerinnen schwerer machten, sie zu halten. Sogenannte Liebeskugeln hingegen belasteten den Beckenboden eher, statt diesen zu trainieren. Die kleinen Gewichte kommen oft in Sets daher. Unterschiedliche Farben oder Größen deuten auf unterschiedlich viel Gewicht hin. Um die Konen und das Training mit ihnen wortwörtlich im Blick zu haben, ist der ideale Aufbewahrungsort für Jütte Welbhoff die Dusche. Zu Beginn einführen, Körper nass machen, einseifen, abduschen und spätestens beim einbeinigen Füßewaschen zeige sich dann, ob man dem jeweiligen Gewicht schon gewachsen sei – oder ob es laut scheppert in der Duschwanne.
Wer sich zum Training eher motivieren könne, wenn ein spielerischer Aspekt dazu kommt oder wer einfach ein intensiveres Training benötigt, sollte sich mal nach einem smarten Beckenbodentrainer umschauen, so der Expertinnen-Rat. Mit Sensoren ausgestattete Konen messen Kraft und Bewegung von innen. Spiele, die Anwenderinnen auf dem Smartphone oder Tablet verfolgen können geben vor, wann sie anspannen, halten oder entspannen müssen. Bei dieser Art von Kegeltraining steuern Spielerinnen beispielsweise, wie hoch eine Spielfigur fliegen muss, damit sie einen vorgegebenen Parcours bewältigt. Zu den ersten Namen, die bei diesem Thema im Internet auftauchen, gehören Produkte wie Elvie, Perifit sowie Emy (Fizimed).
Als das Gespräch sich seinem Ende neigt, erzählt Jütte Welbhoff noch, dass viele Menschen leider erst in den Wechseljahren bewusst wird, dass sie zu wenig oder das Falsche für ihren Unterleib getan haben. Deshalb betont sie: „Der Beckenboden ist eine Lebensaufgabe.“
Anleitung für den beckenbodenfreundlichen Toilettengang
Richtig auf die Toilette gehen will laut Jütte Welbhoff gelernt sein. Richtig, das heiße, Urin und Kot so in die Toilettenschüssel fließen und plumpsen zu lassen, dass der Beckenboden und die Ausscheidungsorgane dabei möglichst wenig belastet werden. Konkret bedeute das fürs Wasserlassen zum einen, dass Besitzerin oder Besitzer der betreffenden Blase diese zum richtigen Zeitpunkt leert. „Wenn die Blasenspannung überreizt ist, dann kann sie nicht mehr flexibel reagieren“, erklärt die Hebamme. Wer dauerhaft zu spät auf die Toilette gehe, schädige die Rezeptoren, die den Füllstand anzeigen. Präventiv zu schnell zu gehen sei allerdings auch nicht gut. Idealerweise setze man sich beim Urinieren aufrecht hin und stehe mit beiden Füßen locker, aber mit der gesamten Sohle auf dem Boden. „Es soll frei rauslaufen können und das geht am besten, wenn ich gerade sitze“, so die 40-Jährige. So knicke nichts ab.
Anders sieht es beim sogenannten großen Geschäft aus. Hier biete sich eine Art Hockstellung an. Für die Benutzung hiesiger Toiletten könne dafür beispielsweise ein Hocker zum Einsatz kommen, auf dem die Füße stehen. Ein leicht zurückgelehnter Oberkörper und sanfte Schaukelbewegungen erleichterten den Stuhlabgang zudem. „Dann ist der Weg im Enddarm automatisch frei“, gibt Jütte Welbhoff an. Für beides – das große wie das kleine Geschäft – gilt ihr zufolge: auf keinen Fall pressen, damit es schneller geht! Denn das mag der Beckenboden ganz und gar nicht.
Einigen generellen Informationen sowie den markierten Zitaten liegen folgende Quellen zugrunde:
AOK-Bundesverband GbR (Link), Stand: 19. Oktober 2022.