„Mich in meiner Wohnung einzuschließen, hätte für mich nichts mit Leben zu tun“
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Zöliakie wird umgangssprachlich gern als Glutenunverträglichkeit betitelt. Doch das, was da im Körper von Betroffenen passiert, wenn sie das Klebereiweiß aus Getreide zu sich nehmen, rangiert eindeutig auf einer ganz anderen Ebene und kann im schlechtesten Fall richtig gefährlich werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass Zölis, wie Interview-Gästin Sybille Zöliakie-Erkrankte liebevoll nennt, kein gutes Leben haben können. Die 48-jährige Betriebswirtin, die als Facheinkäuferin bei der Fraport AG arbeitet und unweit von Frankfurt am Main wohnt, hat mit uns über ihre geerbte chronische Krankheit gesprochen. Da Sybille ihren Nachnamen nicht online lesen möchte, und weil wir uns bei Instagram über den Weg gelaufen sind, ist das folgende Interview eines, bei dem geduzt wird.
Sybille: Ich habe eine offiziell diagnostizierte Zöliakie. Sprich: Bei einer Magenspiegelung mit Biopsie im Oktober 2020 wurde eine Marsh 3A festgestellt (Anmerkung: Marsh-Kriterien beschreiben die unterschiedlichen Veränderungen der Darmschleimhaut von Zöliakie-Patienten) und durch einen IgA-Bluttest (Immunglobin A) die Zöliakie bestätigt. Meine Werte lagen über dem 13-fachen des Normalen. Im letzten Jahr wurde durch einen Gentest eine Fehldiagose gänzlich ausgeschlossen. Das heißt, für eine gesicherte Diagnose sollte man eine Magenspiegelung mit Biopsie, Bluttest IgA und einen Gentest HLA-DQ2 und HLA-DQ8 machen lassen. Der Gentest wird nur in Ausnahmefällen von den Krankassen übernommen und muss daher meist selbst bezahlt werden.
Sybille: Bei mir fingen die Probleme mit 17/18 Jahren an. Damals hatte ich extreme Magen-Darm-Probleme. Mein Hausarzt war der Meinung, ich hätte etwas an der Bauchspeicheldrüse und soll deshalb nichts Fettiges essen. Danach habe ich jegliches Fett weggelassen und trotzdem hatte ich hin und wieder Probleme.
2019 war ich dann auf Kreuzfahrt. Nach einem Tag bin ich abends in der Klinik des Schiffs gelandet, weil ich Herzrasen hatte; eine richtige Panikattacke. Ich hatte allerdings keine Magen-Darm-Probleme. Die Krankheit an sich ist wie ein Chamäleon. Du kannst sämtliche Symptome haben – aber nicht unbedingt Magen-Darm-Schmerzen. Deshalb dauert es bei vielen auch ewig, bis sie überhaupt die Diagnose Zöliakie bekommen. Ich hatte Herzrasen, hatte einen Ruhepuls von 120 und das Gefühl, mir hüpft gleich das Herz raus. Auf dem Kreuzfahrtschiff dachten sie deshalb zuerst, dass ich einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt oder etwas in dieser Richtung hätte. Dann sagte der Arzt zu mir: „Sie haben irgendetwas, aber ich weiß nicht, was.“
Es ging mir dann die gesamte Kreuzfahrt über nicht gut. Ich habe auch nicht wirklich etwas gegessen – nicht weil mir schlecht war, sondern weil ich keinen Appetit hatte. Irgendwann ging es mir wieder besser. Allerdings hatte ich das ganze Prozedere ein Jahr später wieder – wieder im Urlaub. Diesmal in Südtirol, in der Nähe von Meran und mit den gleichen Symptomen. Das hatte zur Folge, dass sie mich mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht haben. Der Arzt dort riet mir dann, dass ich zur Magen-Darm-Spiegelung gehen soll, wenn ich wieder daheim bin. Rückblickend denke ich, dass der Auslöser der Symptome im Urlaub die geballte Ladung von gluten- und weizenhaltigem Essen war.
Sybille: Ja. Aber dann habe ich bei mir gedacht: Vielleicht hat er nicht ganz Unrecht, weil das noch gar keiner angesprochen hatte. Vorher ging alles in Richtung Stress oder dass ich etwas Falsches gegessen hätte. Aber nie ist jemand auf die Idee gekommen, dass es vom Magen-Darm-Trakt kommen könnte.
Interview-Partnerin Sybille
Interview-Partnerin Sybille
Sybille: Ja. Du gehst aber deshalb auch irgendwann nicht mehr zum Arzt, weil du sowieso immer gesagt bekommst: „Sie haben bestimmt etwas zu fettiges gegessen.“ Dann kam das Herzrasen und das hat jeder auf Stress geschoben. „Das ist die Psyche.“ Das wurde so abgetan. Ich habe immer gesagt, dass etwas nicht stimmt, aber konnte nicht zuordnen, wo es herkommt.
Auf jeden Fall hat der Arzt in Südtirol erstmals angesprochen, dass das bei mir etwas Organisches sein könnte. Ich hatte in dem Jahr von Januar bis September 14 Kilo Gewicht verloren, ohne dass ich eine Diät gemacht habe. Ich habe normal gegessen. Das war schon ein wenig beängstigend.
Sybille: Nein, es gibt niemanden, von dem ich es genau wüsste. Es könnte von meinem Opa mütterlicherseits kommen, leider ist er schon vor vielen Jahren verstorben. Meine Mutter hatte es eher nicht, wenn dann mein Vater. Es ist ja auch so, dass man diesen Gendefekt haben kann, das aber nicht heißen muss, dass die Zöliakie ausbricht. Es gibt auch unheimlich viele Leute, die den Defekt haben und bei denen die Erkrankung erst mit 70 ausbricht oder nie. Es könnte also sein, dass sie irgendjemand in meiner Familie es noch hat oder hatte, aber sie nie ausgebrochen ist. Der Auslöser, dass die Krankheit eventuell ausbricht, ist übrigens meist eine schwere Magen-Darm-Infektion. Wenn man Magen-Darm-Beschwerden hat, isst man ja gern Zwieback oder Salzbretzeln, was beides glutenhaltig ist. Damit füttert man die Erkrankung zusätzlich in dem Moment. Diese Kombi kann die Zöliakie dann auslösen.
Sybille: Ich bin jetzt kein Mediziner, aber ich würde sagen ja. Um eine Zöliakie festzustellen, muss man sich mindestens zehn bis zwölf Wochen glutenhaltig ernähren. Erst wenn man von einem Arzt, eine diagnostizierte Zöliakie hat, muss man sich strikt gluten- und weizenfrei ernähren. Im ersten Jahr sollte man auf glutenfreien Hafer sowie glutenfreie Weizenstärke verzichten, damit sich der Darm von der Entzündung erholen kann. Denn die Zöliakie ist eine schwerwiegende entzündliche Darmerkrankung. Unentdeckt kann der Darm seine Fähigkeit, Nährstoffe aufzunehmen, verlieren, was zu Mangelerscheinungen und im schlimmsten Fall zu Dünndarmtumoren führen kann. Des Weiteren besteht bei Zöliakie-Patienten die Veranlagung zu Diabetes, Rheuma, Osteoprorose und Schilddrüsenerkrankungen.
Sybille: Nach der Diagnose habe ich meine Küche einmal auf den Kopf gestellt und alles aussortiert, was Gluten und Weizen enthalten hat. Meine Nachbarn, Freunde und Kollegen haben sich gefreut. In einem Buch von der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft e.V. „Glutenfrei leben für Dummies“, was ich mir besorgt hatte, stand drin, man soll sich die Produkte, die man sonst die ganze Zeit gekauft hat, genau anschauen ob diese nicht sogar glutenfrei sind. Das machen viele nicht. Man kann nicht nur das Essen, was in dem Regal mit den glutenfreien Produkten steht. Es muss nicht überall diese durchgestrichene Ähre drauf sein. Wenn die Zutatenliste kein Gluten und Weizen enthält, ist dies ebenfalls glutenfrei. Der Spurenhinweis hat keine Aussagekraft für die glutenfreie Ernährung und kann ignoriert werden. Viele Hersteller drucken den Hinweis zur rechtlichen Absicherung auf, das bedeutet jedoch nicht, dass wirklich Spuren von Gluten im Produkt enthalten sind. 90 Prozent der Produkte, die ich vor meiner Diagnose gekauft habe, waren sowieso glutenfrei. Die Umstellung war für mich also gar nicht so groß.
Sybille: Der normale Bäcker ist tabu. In Frankfurt gibt es glücklicherweise ein paar glutenfreie Bäckereien in manchen Regionen von Deutschland gar keine. Glutenfreie Ersatzprodukte sind allerdings nicht preiswert, sie sind schon sehr teuer, im Durchschnitt das dreifache von glutenhaltigen Produkten. Viele Betroffene ärgern sich darüber. Die Mehrkosten können zurzeit nicht steuerlich abgesetzt werden, jedoch kann jeder, der eine vom Arzt diagnostizierte Zöliakie hat, beim Versorgungsamt einen Antrag stellen. Bei Zöliakie wird ein Grad der Behinderung von 20 anerkannt und bei der Einkommenssteuererklärung kann ein Steuerfreibetrag von 384 Euro gelten gemacht werden.
Sybille: Richtig. Kollegen von mir haben auch schon gesagt: Da bist du schon gestraft mit der Krankheit, warum sind denn die Produkte dann auch noch so teuer? Das versteht keiner. Ein Kilo glutenfreies Mehl kostet mittlerweile über 4 Euro, zum Vergleich – ein Päckchen Weizenmehl 79 Cent. Ein abgepacktes, glutenfreies Brot besteht aus circa zehn kleinen Scheiben und kostet über 3 Euro. Das geht richtig ins Geld. Und da ist noch kein Käse, Wurst, Butter oder Sonstiges dabei. An dieser Stelle ein Tipp: Wenn man sich abgepacktes glutenfreies Brot kauft, sollte man es toasten. Beim allerersten Mal, als ich mir glutenfreies Brot geholt habe, habe ich es nicht getoastet. Ich habe reingebissen und gedacht, mein Leben sei zu Ende; ich werde nie wieder eine Scheibe Brot essen können. Der Geschmack verbessert sich, wenn man es toastet.
Sybille: Zum Thema Pommes: Viele fragen, ob das Essen glutenfrei ist. Diese Frage finde ich in der Gastronomie in Deutschland immer noch sehr schwierig. Denn wenn ich jemanden, der gar nicht weiß, was Gluten ist, frage, ob das Essen glutenfrei ist, dann kann er mir die Frage nicht beantworten. Der denkt sich: „Das sind doch Kartoffeln. Das ist Fett. Was möchte sie denn jetzt?“ Ich frage immer, ob in der Fritteuse noch etwas anderes außer Pommes frittiert wird. Denn diese Frage kann mir der Koch in jedem Fall beantworten. Werden da nur Pommes frittiert und wenn die Pommes aussehen, als wären sie nicht in Mehl gewälzt, damit sie knuspriger sind, dann esse ich sie. Ich beobachte auch immer, wie die Mitarbeiter mit dem Essen umgehen. Dafür entwickelt man einen Blick. Habe ich das Gefühl, jemand geht nicht so mit dem Essen um, wie ich mir das vorstelle, dann esse ich auch nichts. Das heißt, immer fragen, genau hinschauen und auf sein Baugefühl hören.
Die Gastronomie im Rhein-Main-Gebiet bietet immer mehr glutenfreie Sachen an. Wir haben teilweise auch zu 100 Prozent glutenfreie Cafés, oft auch in der Kombination mit veganem oder Veggie-Essen. Wobei das nicht zwingend etwas miteinander zu tun hat. Ich esse auch gern mal ein Stück Fleisch. Aber irgendwie scheint es sich besser zu verkaufen, wenn auch vegan dran steht. Das ist ein bisschen hip.
Sybille: Ja, ich gehe auch in Restaurants. Jedoch informiere ich mich vorab, ob ich dort etwas Glutenfreies zu essen bekomme. Mein Freundes- und Bekanntenkreis ist sehr offen gegenüber meiner Krankheit. Auch meine Kollegen nehmen Rücksicht auf mich. Ich habe da sehr viel Glück. Ich werde immer gefragt: „Sybille, kannst du da auch was essen? Schau doch mal.“ Oder sie kommen gleich zu mir und fragen: „Wo wollen wir denn hingehen, damit du auch etwas essen kannst?“ Wenn wir Pizza essen gehen wollen, weiß ich drei, vier Pizzerien, in denen es etwas zu essen für mich gibt. Dann wird eine ausgesucht. Die anderen können dort normal essen, ich esse glutenfrei und alle sind happy.
Bei Einladungen von Freunden mache ich meistens den Vorschlag, dass wir grillen. Da ich nicht weiß, was vorher auf dem Rost drauf war, bringe ich einfach eine Grillmatte oder -schale mit. Man hat immer das Risiko der Kontamination, wenn man auswärts essen geht, im Urlaub oder wenn man bei Freunden isst. Aber mich deshalb in meiner Wohnung einzuschließen, die zu 100 Prozent glutenfrei ist, das hätte für mich nichts mit Leben zu tun.
Sybille: Bis es mir wieder besser ging, hat es ungefähr ein halbes Jahr gedauert. Nach einem Jahr habe ich mich dann wohler und fitter als zuvor gefühlt. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich wieder mehr Schwung habe, dass ich motivierter war. Insgesamt habe ich wieder fünf, sechs Kilo zugenommen. Mein Gastroenterologe meinte mal: „Ich weiß, dass Frauen es eigentlich ganz nett finden, wenn sie Gewicht verlieren. Aber in dem Fall ist es besser, wenn man wieder zunimmt, weil das heißt, dass sich der Körper wieder erholt hat.“ Wenn ich ganz normal glutenfrei essen würde, aber abnehmen würde, wäre das kein gutes Zeichen. Seit meiner Diagnose hatte ich noch keinen Glutenunfall. Mein IgA-Wert, den ich jährlich kontrollieren lassen, ist top und meine Darmzotten haben sich innerhalb eines Jahres komplett erholt.
Wie bist du denn dann auf die Idee mit deinem Insta-Kanal sybille.glutenfrei gekommen, wo du anderen Rezepte verrätst, ihnen Tipps gibst, wo sie glutenfreie Nahrungsmittel einkaufen, essen gehen und Urlaub machen können?
Sybille: Eigentlich kam das nur aus Jux und Tollerei. Zum einen fotografiere ich ganz gerne und zum anderen dachte ich mir, vielleicht interessiert es ja irgendjemanden. Außerdem möchte ich aufzeigen, dass man mit Zöliakie ein ganz normales Leben führen kann, dass man verreisen kann, dass man auch in der Kantine am Arbeitsplatz essen gehen kann, dass man zu Feiern, zu Freunden und auf Konzerte und Sportveranstaltungen gehen kann. Die Zöliakie ist ein Teil meines Lebens, aber sie bestimmt es nicht. Durch den Insta-Account sind auch Freundschaften zu anderen Zölis oder Menschen mit Glutenunverträglichkeit entstanden, die ich nicht mehr missen möchte.
Sybille: Letztes Jahr habe ich an der Calypso-Biotech-Studie CALY-002 in der Universitätsmedizin Mainz teilgenommen. Aktuell gibt es zwei klinische Studien mit freiwilligen Probanden in Deutschland. Dabei geht es aber nicht um Heilung. Wissenschaftler weltweit forschen an Medikamenten, damit man eventuell hin und wieder etwas Glutenhaltiges essen kann, ohne die Darmzotten, also die Darmschleimhaut, zu schädigen. Die Krankheit ist nicht heilbar und es gibt bis heute kein Medikament um eventuelle Symptome, die trotz einer strikten gluten- und weizenfreien Ernährung auftreten können, oder um einem Glutenunfall zu behandeln.
Sybille: Bei der Studie, an der ich teilgenommen haben, war das so. Zum einen muss man dafür bestimmte Kriterien erfüllen – auch bezogen auf die Darmzotten und die Blutwerte zum Beispiel. Das Medikament CALY-002 wird nicht in Tabletten-Form, sondern als Infusionen verabreicht. Diese habe ich viermal alle zwei Wochen bekommen. Es handelt sich allerdings um eine Doppelblindstudie, das heißt, ich weiß nicht, ob ich das Medikament wirklich bekommen habe oder nicht. Zusätzlich musste ich über einen Zeitraum von circa neun bis zehn Wochen täglich drei Kekse mit jeweils einem Gramm Gluten essen. Ich hatte keinerlei Symptome oder Nebenwirkungen.
Ein kleiner Einblick in mein Leben als Zöli…. und nicht zu vergessen: Letzten Endes muss jeder für sich selbst entscheiden, wie er mit der Krankheit umgeht – es gibt kein richtig und kein falsch.