Künstliche Blase

Künstliche Blase
Leonie Backhaus

„Mein Pouch denkt noch, er wäre Darm“

Die ungefähre Lesezeit beträgt 20 Minuten.

Die ungefähre Lesezeit beträgt 20 Minuten.

Unsere heutige Interview-Gästin heißt Leonie Backhaus (25). Sie lebt mit einem Mainz-Pouch, also einer künstlichen Blase, im schönen Niedersachsen. Uns ist Leonie bei Instagram aufgefallen, weil sie ihre Follower an ihrem Alltag teilhaben lässt – an den schönen Momenten sowie auch an den weniger schönen und glamourösen. Wenn Leonie nicht gerade Reels dreht, dann macht die gelernte sozialpädagogische Assistentin eine Ausbildung zur Erzieherin. Ach, und weil wir uns über Social Media kennengelernt haben, duzen wir uns in dem folgenden Artikel. Und nun: Text ab.

Du hast einen Mainz-Pouch. Was ist das und warum heißt der so wie eine deutsche Stadt?

Leonie: Der Mainz-Pouch ist eine künstliche Blase, die aus eigenem Darm besteht. Es wird einfach ein Stück vom Darm abgetrennt und zu einer Tasche zusammengenäht. Wenn vorhanden, wird der Blinddarm dazu benutzt, um daraus eine Art Harnröhre zu basteln, die zum Bauchnabel führt. Von außen kann man dann mit einem Katheter durch den Bauchnabel in den Pouch kommen, um ihn zu entleeren. Wenn man keinen Blinddarm mehr hat, wird dafür einfach auch Darm verwendet. Beim Namen gehen die Meinungen auseinander. Soweit meine Ärzte mir das erklärt haben, heißt der Mainz-Pouch nicht wegen Mainz so, sondern weil das eine Zusammensetzung verschiedener Wörter ist, quasi eine Abkürzung.

Wieso brauchst du eine künstliche Blase? Was ist mit der passiert, mit der du geboren worden bist?

Leonie: Ich habe eine Grunderkrankung. Lumbosakrale Agenesie nennt sich die. Das ist eine Fehlbildung, die im Kreuzbein liegt und Blase, Darm, Füße, Rücken und Beine beeinträchtigt. Dadurch war ich schon immer inkontinent und habe mein Leben lang Windeln getragen. Als ich ungefähr 14 Jahre alt war, habe ich anfangen müssen, mich durch die Harnröhre selbst zu katheterisieren, weil der Blasendruck und der Schließmuskel nicht mehr miteinander gearbeitet haben. Das klingt erst einmal blöd: Es liegt eine Inkontinenz vor, aber trotzdem hat sich die Blase nie vollständig entleert, weil das mit dem Druck nicht funktioniert hat. Dadurch war immer Restharn in meiner Blase, was zu Blasenentzündungen und Nierenbeckenentzündungen geführt hat. So musste ich mich selbst katheterisieren.

Irgendwann war ich dann auf der Toilette und es funktionierte nicht. Ich kam mit dem Katheter nicht mehr durch die Harnröhre. Dann ging’s in die Notaufnahme, wo es hieß, dass ich eine Blasenentzündung hätte, wodurch die Harnröhre angeschwollen sei. Ich habe dann erst einmal einen Dauerkatheter bekommen. Das hat sich dann ein paar Mal wiederholt, bis ich gesagt habe, dass das gar nicht sein kann. Sonst hat das Katheterisieren bei Blasenentzündungen auch noch funktioniert. Dann haben die Ärzte das noch einmal näher untersucht und herausgefunden, dass meine Harnröhre durch dieses Katheterisieren sehr vernarbt war und man da deshalb einfach nicht mehr durchkam. Meine Geschichte soll aber keinem Angst machen. Das ist tatsächlich Pech. Es gibt genügend Leute, die können sich ihr Leben lang katheterisieren. Dann war natürlich klar, dass eine andere Lösung für mich her muss. Und im April 2019 kam der Mainz-Pouch.

Hat die Lumbosakrale Agenesie, mit der du auf die Welt gekommen bist, sonst noch Auswirkungen auf deinen Körper und dein Leben?

Leonie: Ich habe in der Vergangenheit sehr viele Probleme mit meinem Rücken gehabt, hatte sehr starke und schlimme Rückenschmerzen, sodass ich mich teilweise gar nicht mehr bewegen konnte. Ich hatte eine Zeitlang – und das kann sich bis heute keiner erklären – dass meine Beine im Sitzen von alleine im 90-Grad-Winkel hochgegangen und so erstarrt sind. Ich saß stundenlang mit diesem 90-Grad-Winkel in den Beinen da und es ging gar nichts mehr. Ich habe meine Beine auch nicht mehr gespürt. Das hat dann zum Glück nach ungefähr einem halben Jahr aufgehört – und kommt hoffentlich nicht wieder vor. Das war ganz, ganz gruselig.

Ich habe sogenannte Hohlfüße und Hammerzehen. Das heißt, dass meine Zehen ein bisschen wie Krallen sind. Daran wurde ich auch schon operiert. Meine großen Zehen wurden zum Beispiel gestreckt, damit der Fuß ein bisschen flacher ist und ich besser laufen kann. Meine Fußgelenke sind außerdem versteift. Ich kann also die Füße nicht abrollen wie jeder gesunde Mensch.

Aber du kannst laufen. Das ist bei deiner Grunderkrankung ja gar nicht selbstverständlich, dass das funktioniert, oder?

Leonie: Nein, das stimmt. Die Ärzte haben damals auch zu meinen Eltern gesagt, dass ich nicht laufen können werde, weil in den Waden eigentlich keine Muskulatur aufgebaut werden kann. Oder es ist zumindest zu wenig, um den Körper tragen zu können. Bei der Geburt hat man noch gar nichts gesehen. Da war bloß klar, dass ich zu früh geboren worden bin – und irgendwas anders war, aber noch nicht, was das ist. Als ich ein halbes Jahr alt war, haben wir die Diagnose bekommen. Meine Eltern sind dann sofort mit mir zur Krankengymnastik gegangen.

Das gibt es auch für so kleine Babys schon?

Leonie: Ja, das gibt es auch für so Kleine schon. Und das ist ganz, ganz schrecklich und gewiss nicht schön, weil die Babys nur schreien. Das können sie ja noch gar nicht einordnen. Ich habe die sogenannte Vojta-Therapie bekommen. Das ist eine sehr umstrittene Therapie, aber sie hat mir am Ende geholfen, dass ich jetzt laufen kann.

Was bedeutet es dir, deine Follower an Freude, Ausflügen, aber eben auch Tränen und Pipi-Unfällen teilhaben zu lassen? Warum machst du das?

Leonie: Ich habe sehr viele Probleme mit meinem Pouch. Irgendwann habe ich gedacht, dass es nicht sein kann, dass ich die einzige mit diesen Problemen bin. Das nervte. Inkontinenz ist einfach ein Thema, über das nie gesprochen wird; was keiner ansprechen mag. Wer betroffen ist, redet nicht drüber. Und wenn man drüber redet, wird man meistens ausgelacht, für blöd erklärt oder es wird gesagt, man hätte psychische Probleme. Irgendwann war ich mal wieder im Krankenhaus, hatte mal wieder die Schnauze voll und dachte: „Komm, du nimmst dir einfach selbst die Last von den Schultern, schreibst das einfach alles auf und zwar mit einem Instagram-Account. Wer das sieht, der sieht’s, wer nicht, der sieht’s nicht. “ Das war eine Art Befreiung – ein riesengroßer Schritt. Ich habe als Kind und als Jugendliche durch meine Inkontinenz und generell durch meine Behinderung sehr, sehr viel Mobbing erfahren. Deshalb hatte ich saumäßige Angst, dass das alles noch schlimmer machen würde. Aber ich dachte auch, dass mir das jetzt einfach egal sein muss. Wenn ich das einmal erzähle, dann habe ich kein Geheimnis mehr; dann kann mir gar keiner mehr was. Dann bin ich fein damit; habe nichts mehr zu verbergen. Und dann habe ich das tatsächlich gemacht und mir damals gesagt: „Wenn ich nur einer Person damit helfen kann, dann hat sich das Ganze schon gelohnt.“ Ich hätte nicht damit gerechnet, dass das so ausartet… Ich dachte damals bei meinem 63. Follower tatsächlich: „Oh wow, so viele??“ Ich habe gar nicht damit gerechnet, dass ich mit diesem Thema sooo viele Menschen erreichen kann. Es ist mir einfach wichtig, zu zeigen, dass niemand mit einer Inkontinenz alleine ist. Sehr viele Betroffene haben mir Feedback gegeben und gesagt, wie glücklich sie darüber sind, dass mal jemand drüber spricht; dass da eine Person ist, der es ähnlich geht. Deswegen mache ich auch weiter, weil ich es total wichtig finde, auch über Themen wie Inkontinenz zu sprechen.

So gesehen ist es ja auch das Normalste der Welt, auf Toilette zu gehen. Und wenn das auf anderen Wegen passiert, dann ist das so. Am Ende ist das total egal und sollte für niemanden relevant sein.

Das stimmt! Mittlerweile steuerst du auf 8000 Follower zu… Du hast vorhin schon erwähnt, dass du aktuell Probleme mit deinem Mainz-Pouch hast. Deine Hoffnung mit einem sogenannten Mickey Button, der verhindern sollte, dass dein Pouch ständig ausläuft, wurde enttäuscht. Wie sieht dein aktueller Plan aus und der deiner Ärzte?

Leonie: Es ist so, dass der Mickey Button ankam und das Einsetzen super geklappt hat. Allerdings passten nur viel zu kleine Katheter durch die Öffnung. Der Mainz-Pouch ist ja aus Darm und somit setzt sich darin auch Darmschleim ab. Und den bekommt man durch einen zu kleinen Katheter nicht raus.

Ach, der Darm produziert weiter Schleim? Spannend! Dabei geht er an der Stelle ja nicht mehr mit Stuhl, sondern jetzt mit Urin um.

Leonie: Mein Pouch denkt noch, er wäre Darm. Wenn ich Durchfall habe, bekomme ich automatisch Pouch-Schmerzen. Und wenn ich Pouch-Schmerzen habe, bekomme ich automatisch Probleme mit dem Darm. Es ist alles noch sehr eng miteinander verknüpft. So ist das eben auch mit dem Darmschleim. Der geht halt durch diese dünnen Katheter nicht durch. Da braucht man schon einen 14er-, optimalerweise einen 16er-Charriére, um das ordentlich rauszubekommen [Anmerkung: Charriére bezeichnet die Größe eines Katheters]. Mit einem 10er hat das nicht funktioniert. Jetzt ist der Plan, dass man noch mal einen größeren Mickey Button bestellt, durch den auch ein 16er-Katheter durchpasst. Auf den warte ich jetzt. Seit Mai sind wir an der Button-Sache dran. Jetzt ist September. Das ist schon eine lange Zeit, die da ins Land geht.

Hast du Strategien entwickelt, um resilienter zu sein und genau diese Geduld aufzubringen?

Leonie: Normalerweise arbeite ich in einer Kita und gehe zur Berufsschule. Das Problem ist, dass ich momentan meinem Beruf nicht nachgehen kann, dadurch, dass ich einen Dauerkatheter trage und oft aus dem Bauch heraus auslaufe. Das schaffe ich psychisch gar nicht. Zur Schule gehe ich, da ist mir das egal. Da sitzen erwachsene Leute. Aber das jedes Mal 25 Kindern zu erklären, würde ich nicht packen, das würde mich noch mehr runterziehen. Deshalb bin ich seit Februar aus der Kita raus. Das stört mich. Arbeit ist ein richtig guter Ausgleich und Ablenkung, weil man einen geregelten Tagesablauf hat. Den habe ich jetzt nur, wenn ich zur Schule gehe. Ansonsten versuche ich, meine Tage zu strukturieren, mir viel vorzunehmen. Mal funktioniert das, mal geht das nicht, weil mein Körper auch mal sagt: „Nö, Leonie, heute mal nicht.“ Ich versuche mir einfach, die Tage vollzupacken, viele schöne Dinge zu unternehmen und die Gedanken auf etwas anderes zu lenken als diesen doofen Pouch. Auch wenn das schwierig ist, wenn einem permanent Urin aus dem Bauch läuft. Das ist echt anstrengend! Meine Nächte sind kurz und manchmal habe ich echt keinen Bock mehr, weil ich einfach weiterkommen möchte. Das könnte ja auch einfach ein bisschen schneller gehen, aber Bürokratie und die Kosten machen das einfach kompliziert…

Du hast vorhin gesagt, dass du in deiner Kindheit und Jugend gemobbt worden bist. Was hättest du der jungen Leonie gern mit auf den Weg gegeben von dem, was du heute weißt?

Leonie: Ich hätte ihr gesagt, dass irgendwann alles gut werden wird; dass sie einmal sehr, sehr, sehr stolz auf sich sein wird. Wenn ich mir die kleine Leonie angucke und mich jetzt, dann ist das eine 180-Grad-Wandlung. Was das Social Media mit meinem Selbstbewusstsein gemacht hat… Ich glaube, ich hätte sie einfach in den Arm genommen und ihr gesagt, dass alles gut werden wird; dass sie gut ist, wie sie ist. Natürlich habe ich Unterstützung von Familie und Freunden gehabt – immer! Aber es ist schon nochmal etwas anderes, wenn man jemanden hat, der Ähnliches durchmacht und einen wirklich versteht. Man fühlt sich dadurch weniger allein – mit seiner Inkontinenz zum Beispiel.

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Juliane Klug

Als Redakteurin liebt es Juliane, in immer neue Themen einzutauchen. Wenn sie anderen Menschen komplexe Dinge verständlich näherbringen kann, ist sie in ihrem Element. Seit dem Frühjahr 2022 sorgt Juliane im Marketing-Team von Citycare24 für Content.

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