Berührungen

Berührungen
Die Wichtigkeit von Berührung

Die Wichtigkeit von Körperkontakt

Die ungefähre Lesezeit beträgt 20 Minuten.

Die ungefähre Lesezeit beträgt 20 Minuten.

Damit zarte Setzlinge zu robusten Bäumen heranwachsen, müssen sie Wind abbekommen; Widerstand spüren. Menschen ticken ganz ähnlich: Auch sie brauchen Berührungen, um sich zu entwickeln; müssen andere physisch spüren, um zu wachsen und profitieren davon auch im Alter. Werden Menschen nicht von anderen berührt, verkümmern sie – wie das Schicksal vieler rumänischer Waisenkinder in den 1990er-Jahren bewiesen hat.

Inhaltsverzeichnis

Emotionale Kälte war in Heimen das größte Problem

Erinnern Sie sich noch? Als nach dem Ende des Ceauçescu-Regimes 1989/1990 Bilder der sogenannten Kinder-Gulags international die Runde machten? Ein Zeit-Autor besucht Jahre später eines der Heime, aus der die grausigen Bilder stammten, und beschreibt die damalige Situation wie folgt: „Gestern noch saßen sie zu zweit und zu dritt auf einer verrotteten Matratze im eigenen Kot, um nackt und frierend in einem dunklen Zimmer darauf zu warten, dass ihnen ein stinkender Brei aus Kartoffelresten und Sägespänen mit einem langen Löffel in den Mund geschoben wurde. Wer nichts mehr essen wollte, machte den Mund einfach zu; wer in diesem Kinder-Gulag nicht mehr leben wollte, machte ihn erst gar nicht auf.“ Die Jungen und Mädchen, die aus ärmlichen Verhältnissen stammten oder Behinderungen hatten, waren gezeichnet von Krankheiten, fehlender Stimulation etwa durch Spielzeuge und auch von Kälte. Aber mehr noch als eine Decke fehlte ihnen menschliche Wärme: emotionale Zuwendung sowie physischer Kontakt.

Entwicklung nicht mehr aufzuholen

Spärlich vorhandene Daten zur Entwicklung der Kinder aus dem Jahr 1996 zeugen von gewissen Verbesserungen beim selbstständigen Gehen, Essen und Trinken. Die sozialen Fähigkeiten holten sie einem Artikel im Ärzteblatt zufolge allerdings nicht auf – zumindest in den später besser aufgestellten rumänischen Heimen. Britische Forscher haben sich später auch mit den Kindern beschäftigt, die nach der Entdeckung der großflächigen Verwahrlosung von britischen Familien adoptiert worden sind. In einem Interview des Deutschlandfunks mit einer beteiligten Wissenschaftlerin spricht diese von physischer Erholung sowie kognitiver Entwicklung, die die Adoption in eine fürsorgliche Familie bei vielen Betroffenen ausgelöst hätte. Allerdings zeigten die Kinder öfter Symptome von ADHS und wiesen kleinere Gehirne sowie geringere IQs auf als diejenigen Jungen und Mädchen, die dieselbe Zeit nach ihrer Geburt in englischen Heimen verbracht hatten.

Im schlimmsten Fall droht der Tod

Haptikforscher Prof. Dr. Martin Grunwald bringt es auf der Seite der Universitätsmedizin Leipzig auf den Punkt: „Berührungsreize, also die Verformung der äußeren Körperhaut durch andere soziale Wesen, sind in der frühen Kindheit die einzige Garantie für eine gesunde und stabile Kindesentwicklung.“ Grunwald leitet das Haptik-Labor des Paul-Flechsig-Instituts für Hirnforschung an der Uni Leipzig. Dort forscht der Wissenschaftler zu Berührungen anderer, der Wichtigkeit des Tastsinns, Selbstberührungen und mehr. Ein Quarks-Beitrag unterstreicht, dass der Tastsinn von Babys bereits um Längen besser funktioniert als andere Sinne, die sich erst noch schärfen müssen. Grunwald ist überzeugt davon: „Der Mensch kann ohne Geschmackssinn leben, ohne Gehör, sogar ohne Augenlicht. Aber Sie bleiben nicht gesund, wenn Ihnen der Körperkontakt genommen wird. Säugetiere, die nicht körperlich stimuliert werden, degenerieren oder sterben“ (Stern).

Aber nicht nur für Kinder ist physischer Kontakt wichtig. „(…) Im späteren Lebensverlauf stützen und stabilisieren Körperinteraktionen unsere Beziehungen zu anderen Menschen.“ (Universitätsmedizin) Deshalb bezeichnet Martin Grunwald diese als Teil des „artgerechten Umgangs miteinander“ und „substantielles Beziehungsgut“. Ihm zufolge hatten die Kontaktbeschränkungen zu Beginn der Corona-Zeit deshalb durchaus das Potential, psychische und körperliche Erkrankungen auszulösen.

Corona-Lockdown: schon Abstand halten kann krank machen

Nun haben manche Menschen auch ohne eine Pandemie im Alltag wenig bis keinen körperlichen Kontakt zu anderen; sind womöglich sogar über das Internet mit vielen Freunden, Verwandte und bekannten vernetzt, aber eigentlich einsam und leiden an Berührungsarmut. An sie richten sich Kuschelpartys und die Angebote professioneller Kuschlerinnen sowie Kuschler. Gegen Geld bieten Letztere körperliche Zuwendungen an, streicheln, umarmen, drücken, kraulen, halten Händchen. Bei den genannten Partys treffen sich mehrere Menschen in einem geschützten Raum und sind einander nah. Fummeleien unter der Kleidung, Küsse auf den Mund oder gar Sex sind bei beidem tabu.

Was im Gehirn vor sich geht

Doch warum brauchen Menschen und andere Säugetiere Berührungen zum Leben? Wenn die Haut – mit knapp zwei Quadratmetern Fläche das größte Organ – sanfte Bewegungen wahrnimmt, dann setzt ein Signal an das Gehirn Oxytocin frei, das sogenannte Glückshormon. Die Hirnanhangdrüse kann bei schönen Erlebnissen oder Aktivitäten außerdem Endorphine ausschütten. Sie veranlassen, dass sich Stress abbaut, die Atmung verlangsamt und sich der Herzschlag entspannt (Quarks). Außerdem stärken Berührungen die Abwehrkräfte gegen Krankheiten: „Menschen, die jeden Tag umarmt werden, sind weniger anfällig für Erkältungen.“ Und: „Massagetherapien helfen, bei Krebspatient:innen Ängste abzubauen, Depressionen entgegenzuwirken und sogar Schmerzen zu mindern.“ (beides Quarks) Martin Grunwald nannte es eine komplexe hauseigene Apotheke, die sich durch Berührungen öffne (Kreiszeitung). Diese könnte insbesondere älteren Menschen, die oft wenig körperliche Zuwendung erfahren, das eine oder andere tatsächlich als Pille oder Saft verschriebene Medikament ersetzen.

Dass Neugeborene viele Kuscheleinheiten benötigen, ist klar. Das richtige Maß an Berührungen bei Erwachsenen ist allerdings schwer zu beziffern. Grunwald zufolge muss die Familie und müssen die Freunde einer Person das in jedem individuellen Fall selbst herausfinden. Wer eher Tier- als Menschenfreund ist, kann sich übrigens auch mit Katze, Kaninchen und Hund behelfen. „Klar ist das ein Ersatz. Ein Tier räumt nichts weg, aber es ist ein lebendiger Körper, mit dem Sie interagieren können.“ (beides Kreiszeitung) Na dann: Auf die Plätze, fertig, loskuscheln.

Einigen generellen Informationen sowie den markierten Zitaten liegen folgende Quellen zugrunde:

Stern.de – G+J Medien GmbH (Link), Stand: 01. Juni 2023.

Universitätsklinikum Leipzig (Link), Stand: 01. Juni 2023.

Deutschlandradio (Link, Link), Stand: 02. Juni 2023.

ÄrzteZeitung – Springer Medizin Verlag GmbH (Link), Stand: 01. Juni 2023.

Das deutsche Ärzteblatt (Link), Stand: 01. Juni 2023.

Quarks.de – Westdeutscher Rundfunk Köln (Link), Stand: 02. Juni 2023.

„Wir sind nur noch Gehirn und Gedanke“ – Interview mit Martin Grunwald, Themenseite „Kuscheln gegen die Einsamkeit“, Zum Wochenende, Kreiszeitung Syke, 17. März 2018.

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Juliane Klug

Als Redakteurin liebt es Juliane, in immer neue Themen einzutauchen. Wenn sie anderen Menschen komplexe Dinge verständlich näherbringen kann, ist sie in ihrem Element. Seit dem Frühjahr 2022 sorgt Juliane im Marketing-Team von Citycare24 für Content.

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