Interview zum Einstieg

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Lebensmittel

„Auf Reis oder Blattsalate reagieren Menschen fast nie allergisch“

Die ungefähre Lesezeit beträgt 20 Minuten.

„Anzeichen Laktose-Intoleranz“, „Welches Obst bei Fruktose-Allergie?“ oder Welche Lebensmittel enthalten Histamin?“: Ginge es nach der Beliebtheit, so hätte Dr. Google längst unzählige Medaillen und Auszeichnungen in der Vitrine. Im richtigen Leben allerdings sind es Ernährungsmedizinerinnen wie Dr. med. Oksana Böhm, die Menschen mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten und -allergien das Leben erleichtern können. Die Fachärztin für Allgemeinchirurgie mit Schwerpunkt Ernährungsmedizin hat uns ein Überblicksinterview zu diesem komplexen Themenkomplex gegeben. Die 36-Jährige arbeitet unter anderem bei Dr. Oeller, einer Bremer Fachpraxis für Proktologie.

Können Sie zunächst einmal die Unterschiede zwischen Allergie, Intoleranz und Unverträglichkeit erklären?

Böhm: Wenn wir von Nahrungsmittelallergien sprechen, dann sind das Überempfindlichkeitsreaktionen unseres Immunsystems auf ein bestimmtes Nahrungsmittel oder ein Bestandteil dessen. Unsere Immunzellen setzen sich mit dem Allergen auseinander und es bilden sich klinische Symptome an verschiedenen Orten – auf der Haut, im Magen-Darm-Trakt, in der Lunge oder bezogen auf den Kreislauf.

Intoleranzen oder Unverträglichkeiten – das kann man durchaus zusammenfassen – sind nicht immunologisch vermittelte Beschwerden des Magen-Darm-Traktes, die unterschiedliche Unverträglichkeitsreaktionen zusammenfassen. Die bekanntesten Störungen in dieser Gruppe sind Laktose-, Fruktose- und Sorbit-Intoleranz. Hier kann der Körper die Bestandteile bei der Verdauung nicht Spalten oder nicht aufnehmen. Klinisch entstehen typischerweise Beschwerden wie Blähungen, Bauchschmerzen und Durchfall. Diese Beschwerden können einer allergischen Reaktion, die sich im Magen-Darm-Trakt abspielt, ähneln. Deswegen ist die Unterscheidung nicht immer ganz leicht.

Eine Ausnahme stellt allerdings die Glutenunverträglichkeit dar – die Zöliakie. Die nennt sich zwar Unverträglichkeit oder Intoleranz, aber das, was da im Körper passiert, ist eine immunogene Reaktion. Es bilden sich fälschlicherweise Antikörper gegen die eigenen Darmzellen, die dann nachfolgend durch diese Entzündungsreaktion absterben können. Im Verlauf können Nährstoffe durch die geschädigte Dünndarmwand nicht mehr richtig aufgenommen werden und es kann zu einem Mangelzustand des Körpers kommen. Das heißt: Wer eine Glutenunverträglichkeit oder -intoleranz hat, der sollte sich strikt an die glutenfreie Diät halten, weil das sonst auf längere Sicht den Körper schädigt. Bei allen anderen Intoleranzen bekommt man vielleicht Bauchschmerzen, Blähungen oder Durchfall, wenn man die Diät nicht einhält, aber man schadet dem Körper damit nicht organisch.

Unverträglichkeit versus Allergie: Ist das eine umkehrbarer als das andere?

Böhm: Man kann sagen, dass eine richtige Allergie oft ein Leben lang anhält. Unverträglichkeiten sind ganz variabel. Sie können auch im höheren Alter auftreten, sie können mal milder sein und dann wieder stärker. Insgesamt nimmt die Rate an Nahrungsmittelunverträglichkeiten in den letzten Jahren zu. Es gibt einen großen Zusammenhang mit unserer heutigen Ernährungsweise, die oft stark verarbeitete Lebensmittel beinhaltet. Dazu kommen noch schädliche Umwelteinflüsse und Stress.

Mal ganz allgemein und grob vereinfacht gefragt: Wenn ich etwas esse und sich mein Magen-Darm-Trakt direkt schlecht fühlt. Heißt das dann, dass ich dagegen allergisch bin?

Böhm: Nein, das kann man so nicht pauschalisieren. Es gibt verschiedene Gründe, wenn man sich direkt nach dem Essen schlecht fühlt: Magen-Darm-Infekt? Unverträglichkeit? Allergie? Ein Magen-Darm-Infekt entwickelt sich oft schnell, hält paar Tage, selten Wochen an, und sistiert [Anmerkung der Redaktion: endet] meist spontan.

Wenn man ein bestimmtes Lebensmittel häufiger isst und danach immer Beschwerden hat, ist es auch da noch schwierig zu sagen, ob das eine Allergie oder eine Unverträglichkeit ist. Da muss man ganz genau in die Untersuchung gehen. Ich würde immer empfehlen, sich bei einem Arzt vorzustellen. Er nimmt die Krankheitsgeschichte auf. Danach kann man bestimmte Untersuchungen einleiten, mit denen sich klären lässt, ob es sich um eine Allergie oder um eine Unverträglichkeit handelt. Wenn sich die Beschwerden auf kein bestimmtes Nahrungsmittel oder Gruppe zurückführen lassen, sollte man womöglich auch eine Magen-Darm-Spiegelung durchführen lassen, um eine chronisch entzündliche Darmerkrankung auszuschließen.

Ich würde deshalb empfehlen, die eigenen Symptome zu beobachten und ein Symptomtagebuch zu erstellen, aus welchem ersichtlich ist, nach welchem Essen man welche Beschwerden bekommt. Aber zu schnell zu sagen „Ich habe das einmal gegessen, habe Schmerzen bekommen, ich reagiere allergisch darauf“, halte ich für falsch. Manchmal können dadurch auch gute Nahrungsmittel, die gesund und nährstoffreich sind, ausgeschlossen werden, obwohl das gar nicht sein muss.

Frau Dr. Böhm: Lebensmittel-Interview

Dr. med. Oksana Böhm

Frau Dr. Böhm: Lebensmittel-Interview

Dr. med. Oksana Böhm

Manche Reaktionen machen sich doch wahrscheinlich auch gar nicht direkt bemerkbar, oder?

Böhm: Ja, das stimmt. Eine allergische Reaktion vom Soforttyp tritt schon meist schneller als eine Unverträglichkeit auf, aber es gibt auch verspätete allergische Reaktionen, die erst Stunden später nach Nahrungsaufnahme auftreten und somit klinisch nicht leicht von Unverträglichkeiten zu unterscheiden sind. Wie schon erwähnt gehört hier die Unterscheidung und Untersuchung in die Hände eines Spezialisten.

Heutzutage ersetzen viele Menschen Kuhmilch mit pflanzlichen Alternativen. Viele tun das aus ideologischen Gründen, weil sie einfach nicht gut finden, wie Kühe gehalten werden. Daneben gibt es die Leute, die sagen, dass sie laktoseintolerant sind. Jetzt ist das ein Begriff, der schnell verwendet wird. Wissen Sie, wie viele Personen in Deutschland tatsächlich eine Laktose-Intoleranz haben?

Böhm: Die Laktose-Intoleranz ist mit die bekannteste Intoleranz, die es gibt. Sie ist weltweit sehr verbreitet. Bei uns in Deutschland liegt die Zahl der Menschen mit Laktose-Intoleranz bei 15 bis 20 Prozent. Wenn wir jetzt in Richtung Indien oder Südafrika schauen, da sind es sogar bis zu 80 Prozent, die Laktose – also den Milchzucker – nicht vertragen.

Milch besteht weiterhin aus dem Molkenprotein – dem Molkeneiweiß – und aus dem sogenannten Kasein. Das sind beides Eiweißprodukte, auf die man auch allergisch reagieren kann. Das heißt, wenn Menschen sagen, dass sie Milch nicht vertragen, kann der Milchzucker oder das Milcheiweiß gemeint sein. Wenn Menschen Laktose nicht vertragen, dann trinken sie die laktosefreie Milch. Wenn man das Eiweiß in der Milch nicht verträgt, kann man Milchprodukte aus Schaf- oder Ziegenmilch verwenden. Und es gibt mittlerweile auch ein gutes Angebot an pflanzlichen Milchalternativen. Wie streng die laktosefreie oder milcheiweißfreie Diät eingehalten werden soll, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich.

Bei der Laktose-Intoleranz kann man übrigens das Enzym Laktase, das dem Körper für die Spaltung von Milchzucker fehlt oder zu niedrig ist, in Tablettenform zu sich nehmen. Wenn man weiß, dass man auf einem runden Geburtstag eingeladen ist und bei der Sahnetorte keine Rücksicht auf denjenigen genommen wird, kann man diese Produkte einnehmen und dann wird der Milchzucker in der Mahlzeit gespalten. Somit werden die Symptome reguliert.

Nüsse, Kohlenhydrate, Fette, Hühnerei und mehr: Es gibt ganz viele Lebensmittel oder Bestandteile von Lebensmitteln, die Menschen nicht vertragen. Was ist denn der Klassiker der Allergien und Unverträglichkeiten? Und andersherum: Was sind denn ganz seltene Fälle?

Böhm: Das ist nach Altersgruppe etwas gestaffelt.

Säuglinge und Kinder vertragen tendenziell keine Milch – häufig Kuhmilch –, Nüsse, Eier, Weizen und Soja. Im Erwachsenenalter treten sogenannte Kreuzallergien von Stein- und Kernobst am häufigsten auf. Dies betrifft vor allem Pollenallergiker. Aber auch Allergien auf Gemüse, Nüsse, Weizen und Meeresfrüchte sind häufig. Eine Kreuzallergie ist eine allergische Reaktionen, die durch eine Verwandtschaft der Eiweiße von Pollen und denen des Steinobstes ausgelöst wird. Das Immunsystem verwechselt sozusagen die Allergene.

Rein theoretisch kann man auf alles reagieren. Nur auf einige wenige Nahrungsmittel wie Reis oder Blattsalate reagieren Menschen fast nie.

Gibt es denn etwas, von dem Menschen schnell sagen, dass sie es nicht essen können, es aber Ihrer Erfahrung nach gar nicht so wahrscheinlich ist, dass sie es wirklich nicht vertragen? Laktose ist vermutlich nur ein Beispiel, oder?

Böhm: Mir fallen insbesondere Hülsenfrüchte wie Kichererbsen, Linsen sowie Erbsen und Vollkornprodukte ein, die ja so gesund sind, weil sie unter anderem so ballaststoffreich sind. Ballaststoffe sich wichtig für eine gute Stuhlregulierung und eine gesunde Darmflora. Hülsenfrüchte sind besonders wichtig für Menschen, die sich vegan und vegetarisch ernähren, da sie eine wichtige Eiweiß und Eisenquelle sind. Aber es ist natürlich auch so, dass Vollkornprodukte oder Hülsenfrüchte bis zu einem gewissen Grad blähen können. Einige Menschen reagieren einfach empfindlicher auf ballaststoffreiche Nahrungsmittel, auch das ist dosisabhängig.

Natürlich muss man unterscheiden: Verursacht das bei mir Schmerzen oder kriege ich Durchfall? Dann ist das etwas anderes. Aber nur weil man merkt, dass man an dem Tag vermehrt Gase produziert, heißt das nicht gleich, dass es da eine Unverträglichkeit gibt.

Jeder Mensch hat eine andere Empfindlichkeit, was den eigenen Körper angeht, ein anderes Schmerzempfinden oder manchmal auch Angst, irgendetwas nicht zu vertragen.

Da ist die Selbstdiagnose aus dem Internet nicht hilfreich. Die Patienten machen selbstständig Tests, die sie nicht interpretieren können und oft kommen sie dann verwirrt und unsicher in die Sprechstunde. Darum brauchen wir mehr Ernährungsmediziner und Hausärzte, die sich mit Ernährung befassen. Die Diagnose einer Nahrungsmittelunverträglichkeit oder -intoleranz gehört in geschulte Hände. Für mich sind ein individuelles Beratungsgespräch mit Bearbeitung eines Symptomtagebuchs und Ernährungsprotokolls, dann Einleitung von auf den Patienten bezogenen Untersuchungen und Interpretation dieser durch keine Leistung im Internet zu ersetzen. Ich kann zwei Patienten mit ähnlichen Beschwerden haben, aber ich mache eine ganz andere Beratung.

…und an der Stelle versagt Dr. Google unweigerlich.

Böhm: Genau, das kann er nicht.

Sie haben gesagt, dass Unverträglichkeiten recht dynamisch sind und immer mal noch auftauchen. Gibt es Daten dazu, bis zu welchem Alter sich Allergien entwickeln?

Böhm: Nein, das kann man nicht so genau sagen. Im Laufe des Lebens können sich Allergien und Unverträglichkeiten verändern und verschieben, sie können ab und zunehmen und manchmal ganz verschwinden. Was man aber weiß, ist, dass die Raten von Nahrungsmittelallergien und Intoleranzen kontinuierlich ansteigen. Dies gilt für Europa aber auch Asien und die USA. Nach heutigem Wissensstand liegt das an der Veränderung der Pflanzenwelt, der Veränderung des Lebensmittelmarktes und der gesteigerten Hygiene.

Gehen wir noch mal zu den Allergien und einem Alltagstipp: Wie erkenne ich denn, ob jemand einen allergischen Schock bekommt und wie reagiere ich darauf?

Böhm: Wenn jemand zum Beispiel nach dem Genuss einer Erdnuss Atemnot bekommt oder sein Kreislauf versagt – er schnappt nach Luft, wird blass oder läuft blau an beziehungsweise verliert das Bewusstsein und hat keinen Puls mehr–, dann sind das die typischen Symptome eines allergischen Schocks. So eine Situation und der Verlauf ist für einen Laien nicht leicht einzuschätzen, deswegen ist unverzüglich ein Notarzt zu alarmieren, welcher auch die Notfallmedikamente bei sich hat. Denn eine allergische Reaktion kann sehr schnell voranschreiten und manchmal tödlich enden.

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Juliane Klug

Als Redakteurin liebt es Juliane, in immer neue Themen einzutauchen. Wenn sie anderen Menschen komplexe Dinge verständlich näherbringen kann, ist sie in ihrem Element. Seit dem Frühjahr 2022 sorgt Juliane im Marketing-Team von Citycare24 für Content.

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