Rückenschonendes Arbeiten in der Pflege

Rückenschonendes Arbeiten in der Pflege
Rücken schonen

Schluss mit gequälten Raketenstarts

Die ungefähre Lesezeit beträgt 15 Minuten.

Die ungefähre Lesezeit beträgt 15 Minuten.

Als zu Beginn der Corona-Pandemie die Krankenhäuser weltweit überfüllt waren, da rückten – für eine viel zu kurze Zeit – die Pflegerinnen und Pfleger auf den Stationen in den Fokus. Sie arbeiteten unermüdlich. Um die Menschen, die in der Altenpflege tätig sind, drehen sich wegen des unpraktischen Zusammenspiels von Fachkräftemangel und demographischem Wandel immer mal wieder viele Gespräche und politische Debatten. Doch neben den Pflege-Profis gibt es auch etwa 2,6 Millionen Menschen (Zahl von Destatis), die allein in Deutschland jemanden zu Hause umsorgen. Um ihnen den oft körperlich anstrengenden Alltag zumindest ein wenig zu erleichtern, haben wir uns mit einer Kinaesthetics-Trainerin getroffen. Was das ist und wie davon sowohl die müden Rücken der Pflegenden als auch die Gepflegten profitieren, steht in folgendem Text.

Ein kleiner Dämpfer zum Einstieg: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Auf die Pflege zu Hause bezogen heißt das, dass einige Angehörige Unterstützung bei Bewegungen leisten, die nicht wirklich als solche ankommt, mit großer Anstrengung verbunden oder aber zumindest für keine der beiden Seiten ideal ist. Doch Hoffnung naht. Denn für Menschen, die das bei sich vermuten oder gerade erst in ihre Rolle finden, hat Gabriela Zaczall Herrera diesen grundlegenden Tipp mitgebracht: Sie sollen die entsprechenden Situationen, um die es geht, zunächst aus der Sicht der gepflegten Menschen nachspielen – und zwar in deren Tempo. Die 30-Jährige ist examinierte Altenpflegerin, regionale Ausbildungskoordinatorin bei der Bremer Convivo-Unternehmensgruppe und Kinaesthetics-Trainerin. Sie kennt sich aus.

Inhaltsverzeichnis

Die Kinaesthetics-Trainerin Gabriela Zaczall Herrera

Die Kinaesthetics-Trainerin Gabriela Zaczall Herrera

Körperteile wie Regenmacher vorstellen

„Wenn Sie nicht wissen, wie Sie es machen sollen, dann begeben Sie sich selbst in die Position und versuchen Sie, zu analysieren. Wo gebe ich Gewicht ab? Was brauche ich, damit ich die Bewegungen durchführen kann?“ erklärt Zaczall Herrera. Um das selbst besser zu beurteilen, helfe es, sich die eigenen Körperteile, insbesondere den Brustkorb, das Becken und die Beine vorzustellen wie einen sogenannten Regenmacher; einen hohlen, verholzten Kaktus, in dessen Inneren sich kleine Kiesel oder Perlen beim Hin- und Herdrehen ihren Weg durch ein Labyrinth eingetriebener Dornen bahnen. In den Körperteilen – so die Vorstellung – fließen die imaginären Perlen dorthin, wo das Körpergewicht für die nächsten Bewegungen benötigt wird.

Viel Luft nach oben ist oftmals beim Aufstehen aus dem Sitzen zu beobachten, sagt Gabriela Zaczall Herrera. Da rissen die Helferinnen und Helfer ihre Schützlinge meist nach oben, während deren Körpergewicht noch komplett mit Po und Oberschenkeln auf Bett oder Stuhl aufliegt. Sinnvoller sei es, die Angehörigen zunächst zu bitten, sich nach vorne an die Kante zu bewegen, sodass eben angesprochene Gewichtsperlen in die Füße fließen können. Wenn möglich, könnten Pflegende hierfür auch das Bett höher fahren. Der Bodenkontakt der Füße muss allerdings gewährleistet sein, sagt die 30-Jährige. Und zwar in dem Maße, wie es die oder der Gepflegte benötigt. „Die betreffende Person muss sich sicher fühlen“, erklärt die Expertin. Anschließend können die Helfenden ihm oder ihr im Bereich des Oberkörpers einen leichten Impuls nach vorne statt nach oben mitgeben, damit Gewicht auf die Füße kommt. Schließlich steht niemand so auf, wie eine Rakete startet: komplett senkrecht gen Himmel gerichtet.

Eigenständig und selbstwirksam

Klappt das, haben davon beide Seiten einen Vorteil: Die oder der Angehörige muss weniger Gewicht schultern und die Person mit Assistenzbedarf bekommt ein Stück Eigenständigkeit zugestanden und wird sich ihrer Selbstwirksamkeit wieder etwas bewusster. Denn darum geht es: Die vorhandene Bewegungskompetenz von Pflegebedürftigen solle erhalten bleiben und sich im Idealfall sogar steigern, so Zaczall Herrera. Ja, das koste anfangs vielleicht ein bisschen mehr Zeit, räumt die Expertin ein, aber sie betont im selben Atemzug, „wie viel wir eigentlich zurückgeben können durch diese fünf Minuten mehr“.

Zwei weitere Punkte, die sie den Teilnehmenden ihrer Kinaesthetics-Workshops mitgibt:

  • statt selbst „eins, zwei, drei“ zu zählen und dann mit der vermeintlichen Hilfestellung loszulegen sollen sie die Menschen, die es betrifft, zählen lassen und erst unterstützen, wenn die oder der Pflegebedürftige sich bei ihnen anfängt, abzustützen
  • wer einen Transfer – etwa vom Bett in einen Rollstuhl – in mehreren Schritten statt in einem großen ruckartigen gestaltet, kann Positionen noch korrigieren, lässt seinem oder ihrem Schützling genügend Zeit, dasselbe zu tun und belastet den Rücken dadurch weniger stark (eventuell ein Rutschbrett zu Hilfe nehmen)

Gabriela Zaczall Herrera weist bei dem Gespräch außerdem mehrmals darauf hin, dass es bei Kinaesthetics nicht darum gehe, die eine richtige Technik zu vermitteln, wie dieser oder jener Positionswechsel gelingt. Denn die gebe es nicht. Vielmehr gehe es um unterschiedliche Bewegungsangebote, eine Vielfalt an Möglichkeiten, wahrzunehmen, wie man selbst funktioniert und wie man diese Erkenntnisse im Umgang mit jemand anderem anwendet. Worauf Kinaesthetics nicht abzielt, ist, gewisse Bewegungsabläufe zu verurteilen. „Ich rede nicht von besser oder schlechter, sondern von anders“, sagt Zaczall Herrera, wenn sie über die Vorschläge Angebot spricht, das sie als Kinaesthetics-Trainerin macht. Wenn jemand beispielsweise á la Dracula mithilfe eines Bettgalgens aus dem Liegen in den Sitz kommt und damit gut fährt, sei das völlig okay. „Mir steht es nicht zu, zu sagen, was für die betreffende Person angenehm ist oder nicht“, sagt die 30-Jährige.

Offenheit von beiden Seiten

Definitiv etwas durch das Konzeptsystem dazugewinnen können ihrer Ansicht nach Personen, die bei sich und ihrem Schützling Verbesserungspotential vermutet. Dafür müssten beide Seiten allerdings offen sein; offen dafür, eigene Bewegungsmuster zu hinterfragen. Personen, die zu festgefahren in ihren Abläufen sind, falle es oft schwerer, die Vorschläge von der Theorie in die Praxis zu übertragen, hat Gabriela Zaczall Herrera beobachtet. Außerdem sei das Handwerkszeug bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen nur bedingt einsetzbar.

Wer diesen kleinen Exkurs spannend fand und mehr erfahren möchte, dem sei ein Kinaesthetics-Grundkurs für pflegende Angehörige ans Herz gelegt. Passende Referentinnen und Referenten finden sich über die Seite www.wir-pflegen-zuhause.de. In der Rubrik Bildungsangebote sind demnächst beginnende Kurse in ganz Deutschland aufgeführt. Wer sechs Teilnehmende zusammenbekommt, kann allerdings auch selbst einen Kurs anstoßen. Die passenden Trainer und Trainerinnen finden Interessierte, indem sie auf dem Informationsreiter ganz nach unten scrollen und die entsprechende Liste anklicken. Zahlreiche Kassen übernehmen oder bezuschussen derartige Fortbildungsangebote für pflegende Angehörige.

Kinaesthetics – der sechste Sinn?

Das Konzeptsystem ist – zugegebenermaßen – ein wenig schwer zu erfassen. Mit Kinaesthetics beschäftigte Wissenschaftler gehen davon aus, dass neben den fünf herkömmlichen Sinnen des Menschen (riechen, schmecken, tasten, sehen, hören) noch ein weiterer existiert: das kinästhetische Sinnessystem („Kinaesthetics – Konzeptsystem“). Dabei soll es sich um im kompletten Körper verteilte Rezeptoren handeln, die spezifische Reize aus dem Inneren wahrnehmen; etwa Schmerz, Muskelanspannung, die Stellung von Körperteilen zueinander, Druck oder Ähnliches. Im Zentrum des Interesses stehen daraus resultierende Bewegungen und Bewegungswahrnehmungen von Menschen sowie die Interaktion von Personen miteinander. Die Erkenntnisse sollen allen Seiten dienen. Denn neben der Fürsorge hat das Konzeptsystem auch die Selbstfürsorge im Blick.

Einigen generellen Informationen sowie den markierten Zitaten liegen folgende Quellen zugrunde:

Statistisches Bundesamt (Link), Stand: 07. November 2022.

„Kinaesthetics – Konzeptsystem“, European Kinaesthetics Association, Linz, Österreich, 2016.

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Juliane Klug

Als Redakteurin liebt es Juliane, in immer neue Themen einzutauchen. Wenn sie anderen Menschen komplexe Dinge verständlich näherbringen kann, ist sie in ihrem Element. Seit dem Frühjahr 2022 sorgt Juliane im Marketing-Team von Citycare24 für Content.

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