Männlich, Handwerker, inkontinent

Männlich, Handwerker, inkontinent
Männlich, Handwerker, inkontinent

„Andere tragen Marken-Unterwäsche. Meine ist anders, auch nicht günstig – und sie gehört zu mir“

Die ungefähre Lesezeit beträgt 20 Minuten.

Die ungefähre Lesezeit beträgt 20 Minuten.

Lange bevor dieser Ratgeber online gegangen ist, hat das kleine Marketing-Team, das ihn auf die Beine gestellt hat, recherchiert. Viel recherchiert. Wir haben nach möglichen Themen gesucht, die wir behandeln wollen, und nach Menschen, die womöglich bereit sind, sich mit uns über Inkontinenz zu unterhalten. Bei Social Media plopp bei dem Schlagwort ein Mann immer wieder auf: Dietmar Şen, oder einfach Dietmar – weil Instagram eine Duz-Welt ist. Der 53-jährige Elektriker wohnt in Frankfurt, lebt seit einigen Jahren mit einer Harninkontinenz und hat kein Problem damit, dem oft so makellosen Insta-Universum mit einem Bild von sich in Stoffwindeln zu mehr Realität zu verhelfen. Im Interview mit Juliane Klug hat der hörbare Hamburger Jung über alte Quellekataloge gesprochen, eine gar nicht so komplizierte Normalität und warum er keine Lust auf Versteckspiele hat.

Männer gelten als das starke Geschlecht und sind mit Schwächen immer ein bisschen eigen – vor Publikum noch viel mehr. Jetzt bist du Handwerker, also in einem Beruf tätig, den die Gesellschaft erst mal als wahnsinnig männlich ansieht. Warum hast du dich dazu entschlossen, mit deiner Inkontinenz an die Öffentlichkeit zu gehen?

Dietmar: Das ist eine Art der Bewältigung. Natürlich: Ich bin beruflich wie auch privat richtig in der Männerrolle. Ich bin auch schon älter, das heißt, ich bin auch so erzogen worden. Und ja: Man kann ein Leben mit Inkontinenz auch als Versteckspiel betreiben. Damit behindert man sich allerdings wahnsinnig, kann vieles nicht machen. Wenn man aber einmal offen mit dem Thema umgeht, dann ist man die Probleme los und kann im Grunde im Alltag alles wieder wahrnehmen wie vorher.

Kannst du mal eine Situation beschreiben, in der du dir mit diesem Outing definitiv wieder Freiheit erkämpft hast?

Dietmar: Ich bin lange Zeit ins Fitnessstudio gegangen. Normalerweise würde man da kaum hingehen und sich umziehen, wenn man eine Windel trägt. Oder wenn man einkaufen geht. Ich kann natürlich lange gucken, dass das Hemd ja nicht hinten aus der Hose rausrutscht. Oder ich sage: Ist mir egal, das bin ich, passt so. Alles andere ist eine Dauerbelastung. Sonst ist man in Gedanken immer beschäftigt damit, dass ja keiner etwas merkt. Inkontinenz kann ganz schnell zum Rückzug aus vielen Bereichen des Lebens führen. Oder man geht damit raus, dann ist es einfacher. Das war mein Weg. Hat aber auch gedauert, bis ich da war. Das ist nicht von heute auf morgen passiert.

Wie ist der Entschluss bei dir gewachsen, offen mit deiner Inkontinenz umzugehen?

Dietmar: Na ja, in der Regel macht man so etwas erst einmal mit sich selber aus. Bei vielen Betroffenen dauert es ja auch eine ganze Weile, bis sie zum Arzt gehen. Es ist auch nicht einfach, von sich selbst zu sagen: Ich mache in die Hose. Dann geht es weiter im Privatbereich, in der Familie, im Umfeld. Wenn man da den Mut einmal hatte, bedeutet das noch lange nicht, dass man dann wieder zum Sport geht. Ich habe irgendwann mit meiner Schwester über das Thema gesprochen. Und dann habe ich mir gesagt: Gut, dann sei doch einfach offen damit. Andere Leute haben auch eine Inkontinenz.

Hat dich deine offene Art eigentlich mittlerweile zu einem in dem Bereich gut vernetzten Menschen gemacht? Kennst du jetzt viele andere Männer, die inkontinent sind?

Dietmar: Eigentlich nicht. Gut, über Instagram kommt ab und zu mal eine Frage – meist nutzen diese Leute Pseudonyme, wenn sie schreiben. Im Bereich Stoffwindeln bin ich vernetzt, da tausche ich mich aus. Aber Inkontinenz ist ein Riesen-Tabuthema – noch viel mehr eben unter Männern.

Dietmar Sen
Dietmar Sen
Wie reagieren Menschen denn auf so viel ungefilterte Authentizität, wie du sie bei deinem Instagram-Auftritt an den Tag legst? Du redest ja nicht nur über deine Blasenschwäche, sondern zeigst dich auch in Windeln.

Dietmar: Das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Ich kann mich natürlich irgendwo hinstellen und sagen: Das ist nicht peinlich und dann ist es mir letztendlich doch peinlich. Indem ich mit meiner Inkontinenz ganz offen umgehe, zeige ich, dass es mir wirklich nicht peinlich ist. Andere Leute tragen irgendeine Marken-Unterhose oder eine tolle Badehose und zeigen sich stolz auf Insta. Meine Unterwäsche ist ein bisschen anders, aber auch nicht gerade günstig – und sie gehört zu mir. In der Regel reagieren Menschen positiv darauf. Manchmal werde ich angegriffen. Manchmal sagen Leute: Das darf man auf keinen Fall zeigen, das ist peinlich, darüber darf man nicht reden. Aber in der Regel sind die Menschen interessiert. Es ist vielen Leuten gar nicht bekannt, dass Männer auch in jedem Alter inkontinent werden können. Sie beschäftigen sich gar nicht damit. Für Betroffene ist es ein Riesen-Thema. Aber die Umwelt und die Mitmenschen nehmen das weniger wahr noch denken sie drüber nach. Und erst, wenn man sie aktiv damit konfrontiert – wenn man beim Einkaufen irgendwo steht und hat sich Hilfsmittel besorgt – dann kommt es zum Gespräch. Ich bin mal aus einem Sanitätshaus gekommen und hatte Überhosen in der Hand. Da hat mich jemand gefragt: „Was ist das?“ Darauf habe ich gesagt: „Das braucht man, wenn man eine schwache Blase hat.“ So. Dann haben wir kurz drüber gesprochen und es kam eine überraschte, aber eher positive Reaktion, dass es überhaupt irgendetwas anderes als Pampers gibt. Ja, und das war’s. Damit war das Thema durch.

Wirst du auch mal in die Fetisch-Ecke und zu Windel-Fans gesteckt?

Dietmar: Das kommt sicherlich vor. Es ist ja auch so, dass man, wenn man nach Erwachsenenwindeln googelt, solche Leute leider meist zuerst findet. Mir persönlich ist das egal; leben und leben lassen ist meine Devise. Ich würde es allerdings besser finden, wenn die Windel-Fans etwas Waschbares nehmen würden (lacht). Für uns Inkontinenzbetroffene ist es ein bisschen negativ, dass man doch schnell in eine Ecke gesteckt wird. Das schreckt ab. Das wird wieder andere davon abhalten, zu reden – gar nicht über Stoffwindel, sondern allgemein über Inkontinenz. Die denken sich dann: Bloß nix sagen, nachher denken die anderen, ich bin aus der Fetisch-Szene. Deshalb achte ich darauf, dass es in meinem Kanal keine derartigen Kommentare gibt. Ich nehme die Leute auch raus, blockiere sie. Es sind vielleicht dieselben Artikel, die bei uns zum Einsatz kommen, aber das ist eine andere Szene, ein ganz anderer Bereich, ein ganz anderes Paar Schuhe. Ich möchte nicht, dass das vermischt wird, weil es einfach die Leute abschreckt, die eine schwache Blase haben.

Du hast schon angesprochen, dass du Stoffwindeln benutzt. Wie bist auf diese Produkte gekommen?

Dietmar: Ich bin selbst 1969 geboren. Da gab es meines Wissens noch gar keine Pampers. Das heißt: Ich bin als Baby selbst noch mit Stoffwindeln gewickelt worden, genau wie meine Geschwister. Bei uns lagen noch lange alte Mullwindeln im Keller, die als Lappen benutzt worden sind. Mulltücher sind ja auch wirklich sehr vielseitig. Gerade das hat mich darüber nachdenken lassen, ob man so etwas nicht wieder benutzen könnte. Es ist ganz schwer, Informationen zu bekommen, wie die Menschen mit Inkontinenz umgegangen sind, bevor Erwachsenenwindeln zum Wegwerfen aufkamen. Aber das waren schlicht und ergreifend Stoffwindeln. In ganz alten Versandkatalogen, Quelle- und Neckermann-Katalogen, da habe ich mal Windelhosen gefunden. Windelhosen in Babygröße, aber auch in Erwachsenengröße. Und dann stand da „Zubehör: Mullwindel 80 x 80“. Was soll es auch anderes gewesen sein? Ich meine, die Menschen früher werden nicht den ganzen Tag mit nassen Hosen herumgelaufen sein. Heute gibt es im Bereich Stoffwindeln für Erwachsene leider noch nicht sehr viele Hersteller. Ich trage meist Suprima-Artikel. Wenn man bei denen auf die Homepage geht, dann sieht man auch die Geschichte der Firma. Windelhosen oder Gummihosen gab es immer schon. Die hat diese Firma immer schon hergestellt, früher auch fürs Babysegment. Das ist dann weggebrochen. Da gibt es jetzt die ganz modernen Sachen wie All-in-Ons. Also: Eigentlich ist die Stoffwindel nichts Neues, keine Neuerfindung, sondern eher „back to the roots“.

Der Nachhaltigkeitsgedanke schwingt bei dir auch mit, oder?

Dietmar: Der Nachhaltigkeitsgedanke macht es in der Moderne zum aktuellen Thema. Das war ja auch früher sinnvoll. Früher hat man nicht alles weggeschmissen. Heute gibt es Coffee-to-go-Becher. Als ich ein Kind war, gab es so etwas nicht. Da hat man eine Tasse Kaffee getrunken oder ein Kännchen, die waren aus Porzellan, und dazu hat man sich hingesetzt. Der Fernseher wurde repariert. Eigentlich hat man früher viel ressourcensparender gewirtschaftet – auch, weil man nicht so viel hatte. Dieser Wegwerfwahn, dieser Einwegkram, der kam meines Erachtens nach erst in den 80ern richtig auf. Das entspricht gar nicht meiner Denkweise – obwohl ich kein Extrem-Öko bin! Ich fahre gern Auto und konsumiere auch vieles, aber man muss die Welt nicht unnütz mit lauter Einwegzeug zumüllen.

Magst du mal ein bisschen zu deiner Geschichte mit Inkontinenz erzählen? Wann hast du sie zum ersten Mal bemerkt und wann wusstest du, dass du dich nicht einfach zu spät zur Toilette aufgemacht hast, sondern eben inkontinent bist.

Dietmar: Das kam schleichend. Ich hatte schon längere Zeit Probleme mit einer Reizblase. Das heißt: auf einmal muss man. Mit der Zeit ist das immer öfter vorgekommen. Irgendwann musste ich nicht mehr nur alle 20 Minuten auf die Toilette, sondern hatte schon nach zehn Minuten Harndrang. Bis es dann so weit war, dass auch mal ein bisschen daneben ging. Jeder kennt die Situation, dass man vom Einkaufen nach Hause kommt, die Treppe hoch geht und dringend auf die Toilette muss. Die Zeit von der Haustür bis auf die Toilette ist irre lang (lacht). Das ist das Gefühl, das bei einer Dranginkontinenz entsteht. 2015 war für mich der Übergang hin zur Inkontinenz.

Wie sieht denn eigentlich dein Alltag aus? Du stehst ja im Berufsleben. Wie managst du das und hast du Tipps für andere Betroffene?

Dietmar: Man muss seine Inkontinenz nicht jedem auf die Nase binden. Aber das Einfachste ist, kein Riesen-Geheimnis draus zu machen, weil man dann befreiter lebt. Außerdem kann man seine Kleidung entsprechend auswählen. Dunkle Kleidung ist von Vorteil, weite Kleidung ist vorteilhaft. Es hängt wahrscheinlich auch davon ab, was für eine Art von Inkontinenz man hat. Eine Tröpfelinkontinenz ist ein ganz anderes Thema als eine Dranginkontinenz. Vielleicht macht man sich als Betroffener schlau, wo die nächste Toilette ist, um große Desaster gleich zu vermeiden. Wer Stoffwindeln verwenden möchte und nicht auffallen möchte, nutzt das klassische System mit Mullwindel und Überhose. Das ist das einfachere, das kann man gut anpassen. Andere Systeme machen zum Teil eher einen dickeren Windelpopo, sind aber zum Beispiel nachts oder wenn man längere Zeiten überbrücken muss von Vorteil. Man kann auch sein Trinkverhalten ein bisschen anpassen. Aber ich glaube, das hängt alles auch immer von der jeweiligen Person ab und von der jeweiligen Ausprägung der Blasenschwäche. Wechselmaterial habe ich im Auto immer mit dabei. Eigentlich ist es das. Das mache ich im Alltag. Man stellt sich ein Leben mit Inkontinenz immer total kompliziert vor, aber ich muss halt entsprechend vorsorgen, dann ist das kein Thema mehr. Wenn ich ein Baby habe, muss ich das ja auch wickeln. Da denkt keiner drüber nach, das ist selbstverständlich. Wenn ich schlechte Augen hätte, hätte ich eine Brille dabei. Genauso wird auch eine Situation wie meine zum Alltag. Sie begleitet mich 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr. Irgendwann ist das die Normalität. Ich persönlich empfinde den offenen Umgang als erheblich einfacher. Bei mir hängen halt Windeln zum Trocknen auf dem Balkon. Beim ersten Mal fragt man sich vielleicht noch: Was denken die Nachbarn? Später denkt man nicht mehr darüber nach und ich glaube, die Nachbarn interessiert das auch nicht.

Hat sich dein Umfeld mit deiner Offenheit verändert? Haben sich Freunde von dir verabschiedet, weil Inkontinenz etwas ist, wovon sie nichts wissen wollen?

Dietmar: Nein, eigentlich nicht. Ich renne im Alltag aber auch nicht überall herum und sage: Pass mal auf, es gibt Stoffwindeln oder du könntest inkontinent sein. Ich rede nicht überall über meine Blasenschwäche. Wenn sie auffällt, dann erkläre ich das und dann ist das Thema durch. Weil ich selbst erfahren habe, wie schwierig es ist, sich damit auseinander zu setzen, tue ich das bei Instagram. Aber das ist nur ein kleiner Teil meines Lebens. Dietmar ist genau wie Hans, Fred oder sonst wer jemand, der tausend Hobbys hat, der einen Job hat, Probleme und Freude, Freunde wie jeder andere. Und er trägt eben keine Boss-Unterhosen, sondern welche von Suprima. Hans hat vielleicht eine Brille und Fred vielleicht einen Gehstock. Meine Güte, so ist das Leben.

Schreiben Sie einen Kommentar:

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Teilen:

Männlich, Handwerker, inkontinent
Picture of Juliane Klug

Juliane Klug

Als Redakteurin liebt es Juliane, in immer neue Themen einzutauchen. Wenn sie anderen Menschen komplexe Dinge verständlich näherbringen kann, ist sie in ihrem Element. Seit dem Frühjahr 2022 sorgt Juliane im Marketing-Team von Citycare24 für Content.

Teilen:

Picture of Juliane Klug

Juliane Klug

Als Redakteurin liebt es Juliane, in immer neue Themen einzutauchen. Wenn sie anderen Menschen komplexe Dinge verständlich näherbringen kann, ist sie in ihrem Element. Seit dem Frühjahr 2022 sorgt Juliane im Marketing-Team von Citycare24 für Content.