„Die Leute haben mehr Respekt vor mir und ich bin offener geworden.“
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Niemand kommt auf die Welt und kann Blase oder Darm direkt kontrollieren. Meist regelt sich das im Kleinkindalter von ganz allein. Sam Metzger ist allerdings nur zur Hälfte trocken geworden – wenn man das so sagen kann. Der 23-Jährige aus dem Emsland kann seine Blase nach eigenen Angaben bis heute nicht wirklich steuern. Konnte es noch nie. Ist sie voll, bleiben dem angehenden Floristen nur wenige Augenblicke, bis der Urin unkontrolliert aus ihm herausfließt. Wieso Sam die Inkontinenzmaterialien, die er im Alltag benötigt, nicht auf Rezept bekommt und wie er zu Diaper Lovern (Windel-Fans) steht, das und mehr hat er im Interview erzählt.
Sam Metzger: Hinter Ingo versteckt sich meine Urininkontinenz. Ich habe sie vor mehreren Jahren mal so getauft. Das war eine Schnapsidee. Seitdem nenne ich meine Inkontinenz so.
Sam: Die Idee kam sehr spontan als ich mal in Köln war. Da war ein Ehepaar und die Dame hat ihren Ehemann ständig angeschrien: „Ingo, Ingo, komm her… Ingo?“ Der Name hat sich einfach so in meinen Kopf eingebrannt, dass ich gedacht habe, ich nenne meine Inkontinenz jetzt einfach Ingo. Dann hat sie einen Namen. Bevor ich das Thema publik gemacht habe, war das für mich damit auch einfacher, in der Öffentlichkeit mit Freunden darüber zu sprechen. Statt zu sagen, dass ich Probleme mit meiner Inkontinenz habe, sage ich immer: Ich habe Probleme mit Ingo. Dann wissen Leute im Umkreis nicht, worüber ich eigentlich spreche.
Klingt nach einer guten Strategie!
Nun bist du Anfang 20. Auch wenn die Pubertät bei mir lange vorbei ist, weiß ich noch, dass das eine Selbstfindungsphase war, eine Zeit, in der ich auf der Suche war. Das kann natürlich bei dir anders sein. Aber erzähl trotzdem mal: Was hat dich in dem Alter dazu gebracht, öffentlich über deine Inkontinenz zu sprechen? Ein Thema, was außerhalb der Fetisch-Szene eher als Makel angesehen wird; als Sache, die jeder und jede Betroffene eher mit sich selbst ausmacht statt darüber zu reden.
Sam: Das ging schleppend los. Ich habe mehrere Monate lang eine Traumatherapie gemacht. Erst da fing es an, dass ich die Inkontinenz akzeptiert und verstanden habe. Das war 2017. Da habe ich langsam versucht, offener darüber zu reden. So fing es an – bis es 2019 groß geworden ist mit den ganzen Beiträgen, Videos und all dem.
Was hat sich für dich geändert und was hat die Öffentlichkeit mit dir gemacht?
Sam: Es hat sich so viel geändert. Nicht nur, dass viele Leute mehr Respekt vor mir haben, weil sie jetzt wissen, womit ich mein ganzes Leben zu kämpfen habe. Ich bin auch offener geworden. Ich bin selbstbewusster geworden, was Inkontinenz angeht. Mir machen Dinge wie Inkontinenzmaterialien einzukaufen nichts mehr aus. Mir war es damals sehr unangenehm, wenn ich mich entschuldigen musste, weil ich mit Leuten beim Essen oder so war und schon wieder auf die Toilette musste. Oder auch wenn mir ein Malheur passiert, was mir seit Jahren nicht mehr passiert ist, dann gehe ich jetzt total offen damit um. Mir macht das nichts mehr aus.
Schön! Gib es auch negative Reaktionen?
Sam: Die gibt es überall. Es gibt negative Kommentare. Personen, die mich schon seit meiner Schulzeit kennen, die mich auslachen – bis hin zu Drohbriefen oder -nachrichten beziehungsweise Beleidigungen bei Social Media. Es ist eigentlich alles dabei.
Au man.. Ich hoffe, dass die positive Reaktionen dennoch überwiegen!?
Sam: Definitiv!
Führt deine Offenheit auch zu einer Vernetzung? Ich habe mal für ein Interview mit einem anderen inkontinenten Mann gesprochen und ihn danach gefragt, ob ihm der Gang an die Öffentlichkeit zu einem besseren Netzwerk als vorher verholfen hat. Das hat mein Interviewgast damals verneint. Kannst du da anderes berichten?
Sam: Am Anfang, da haben sich sehr viele junge Menschen gemeldet oder Kommentare geschrieben, dass sie sich freuen, endlich jemanden in ihrem Alter gefunden zu haben, der dasselbe Problem hat. Dann haben mich auch privat sehr viele Leute kontaktiert oder mich angeschrieben. Ab und zu sind solche Kontakte geblieben. Aber ein richtiges Netzwerk oder so eine Gruppe hat sich bei mir nicht gebildet.
Ich habe gelesen, dass du dein Inko-Material komplett selbst bezahlen musst. Wieso beteiligt sich deine Krankenkassen nicht an den Kosten? Und wieso stellt dir dein Arzt oder deine Ärztin kein Rezept aus?
Sam: Wir haben schon mehrere Anträge gestellt, haben aber nur Ablehnungen erhalten. Das Problem ist, dass ich keine offizielle Diagnose habe, warum ich inkontinent bin. Die Krankenkasse möchte die Ursache wissen, warum ich das Problem habe. Und das ist das Problem. Laut den Untersuchungen, die ich zuletzt und bisher gemacht habe, gibt es für meine Inkontinenz keine körperliche Ursache, keinen körperlichen Grund wie eine Fehlbildung. Laut meiner Krankenkasse benötigen sie aber einen Grund, damit ich Unterstützung erhalte.
Wenn du sagst, körperlich gibt es keinen Grund: Gibt es einen psychischen oder sind die Ärzte einfach komplett ratlos?
Sam: Psychisch gibt es auch keinen Grund. Ich war mit sieben und acht Jahren bei einem Kinderpsychologen, da wurde das abgecheckt. Außerdem bin ich seit 2017 und bis heute in Therapie. Meine Psychologin hat klipp und klar gesagt, dass die Inkontinenz definitiv nichts mit meiner Psyche zu tun hat.
Du bist als Baby auf die Welt gekommen und danach nie trocken geworden. Nach 20 Jahren über dem „Normalmaß“ – also der Zeit, in der andere Menschen ihre Blase kontrollieren können –, da reicht diese Tatsache an sich der Krankenkasse nicht aus, so dass sie sagt: Okay, wir bezahlen dir dein Inkontinenzmaterial?
Sam: Nein.
Verrückt!
Macht das etwas mit dir, dass dir das verwehrt wird?
Sam: Ich finde, dass geht gar nicht. Ich habe mir vor Kurzem wieder eine neue Ration Slips und Pants für einen Monat gekauft: 183 Euro habe ich bezahlt für Produkte für den Tag und welche für die Nacht, weil sich nachts das Problem verstärkt. Das ist halt Scheiße! Ich bin Auszubildender. Meine Mutter finanziert mir da viel, weil ich mir das sonst nicht leisten könnte. Aber es ist natürlich Mist! Das Geld könnten wir auch gut anderweitig benutzen. Es ist schade, aber es ist leider so und ich kenne es nicht anders – von klein auf. Wir mussten auch manche Untersuchung selbst bezahlen oder Medikamente …
Unterstellen dir Menschen, dass du einen Fetisch hast und es nicht zugeben möchtest?
Macht das etwas mit dir, dass dir das verwehrt wird?
Sam: Das haben mich schon super-oft Leute gefragt, ob ich zu der Fetisch-Gruppe gehöre oder wie ich dazu stehe. Jeder kann seine Sexualität ausleben, wie er möchte. Was im Privatleben bei anderen passiert, ist mir egal. Das interessiert mich nicht. Aber ich distanziere mich mit meiner Inkontinenz sehr weit von diesem Fetisch-Thema. Ich kläre auf, um für Betroffene da zu sein! Nicht, um für Fetischisten da zu sein. Ich mache diese Fotos, Videos und Beiträge nicht für Fetischisten, sondern um Jugendlichen, jungen Erwachsenen oder egal welcher Person mit Inkontinenz Mut zu machen. Um zu sagen, dass es okay ist, darüber zu reden. Es haben sich schon öfter Diaper Lover (Windel-Fans) bei mir gemeldet und mir Geld geboten, um bestimmte Fotos und Videos zu erhalten. Aber ich möchte mit dieser Szene nicht assoziiert werden, weil das, was ich mache, Aufklärungsarbeit ist. Das verstehen viele nicht.
Einigen generellen Informationen sowie den markierten Zitaten liegen folgende Quellen zugrunde:
Bildquelle: Sven Hüsemann.